Franz Rosenmayr
Aspekte von Ehre
erfahren in 70 Jahren


Wien, 20. Mai 2000


Erzählend wird berichtet, wo ich wie ich in meinem Leben „Ehre“ wahrgenommen habe; oder auch vermisst habe. Hinzugefügt sind Gedanken, die zum Teil erst viel später mich beschäftigten.

„Dieehre, Herr Wöss!“ „Habe Dieehre“, habe ich bei jedem Gang in Begleitung meines Großvaters gehört. Nahezu täglich, jahrelang in den Dreißigerjahren. Auch habe ich immer wieder „Respekt“ gehört und bei Freunden ein „Servus“.

„Wie es sich gehört“, grüßte oder dankte ich mit; und zwar „ordentlich, dass man es hören kann.“ „Grüß Gott!“

Auch gehörte es sich beim Betreten einer katholischen Kirche, eine Kniebeuge und ein Kreuzeichen zu machen und selbstverständlich die Mütze abzunehmen – als Bub. Freilich auch nicht reden oder gar herumrennen. Gott ist anwesend, das kleine Licht zeigt es an. Ehre sei Gott in der Höhe! Aber auch hier herunten. Im nahe gelegenen jüdischen Tempel ging es anders zu. Keine Kniebeuge, kein Kreuzzeichen und – das Wichtigste – die Mütze aufsetzen. Für diesen Zweck gab es gleich neben dem Eingang eine Schachtel mit flachen, kleinen Käppchen. Aus Papier oder Samt, sogar Einzelne aus Seide; für Buben und Männer. Mädchen und Frauen sah ich im Tempel nie. Unsichtbar hielten die sich oben im ersten Stock auf. Wir Buben durften ungehindert herumgehen und auch sprechen – sogar lachen! Es gab kein rotes Licht.

Das 4. Gebot im Katechismus – „du sollst Vater und Mutter ehren“ – war für mich sowieso klar: Brav sein, den Eltern folgen und nicht frech sein. Dann hieß es noch: „... auf dass du lange lebest und es dir wohl ergehe auf Erden“. Das blieb mir unverständlich.

Das k. u. k. Arsenal ist ein ausgedehnter militärischer Gebäudekomplex des 19. Jahrhunderts. Dorthin sollte mich Großvater immer wieder einmal führen. Er wusste so viel zu berichten. „Zu meiner Zeit sind diese Kanonen ganz anders gestanden. Wie ich gedient habe, war da ein Posten, das war ja eine Kaserne mit Soldaten, Munition und vielen Pferden. Es herrschte strenge Ordnung, Drill, gab Schikanen und Strafen.“ Wir wollten so Vieles genau wissen, mein Bruder und ich. Vom Gottesdienst, vom Essen, von der Stellwache bis zu den Stockhieben vom Profess. Alles erklärte der Großvater. Uniformen, Orden, Fahnen, Kanonen. Sogar das Auto, in dem der Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo erschossen worden war. Es sind die Einschüsse deutlich zu sehen. „Da musste der Kaiser den Krieg erklären.“ Das verstand ich. Das riesengroße Ölbild von der Kaiserparade auf der Schmelz (1897) zeigte mir damals die Monarchie. Bei einer schönen Lederkassette, in der zwei gleiche Pistolen friedlich nebeneinander lagen, sagte Großvater, dass diese für ein Duell geeignet wären und erklärte, dass so ein Zweikampf für die Ehre der Offiziere wichtig war. Offiziere durften nicht wie Mannschaften geschlagen werden. Viele waren Adelige, mussten eigene Reitpferde besitzen. Alle hatten einen persönlichen Diener, den Pfeifendeckel. Zur Strafe konnten sie versetzt, degradiert oder sogar von der Armee ausgestoßen werden.

Dass ich gerne Friedhöfe besuche, auch das verdanke ich meinem Großvater. Wie oft hat er uns auf den Wiener Zentralfriedhof geführt. Zum Grab seiner längst verstorbenen Frau. Besuch, Gebet, ein Grablicht ihr zu Ehren. Überdies Lueger-Gedächtnis-Kirche, Ehrengräber für verdiente Landsleute, Grabsteinplastiken und Inschriften; manchmal Tierspuren im Schnee. Alles war interessant.

Für meine Eltern war es selbstverständlich, dass der Weg zu allgemeiner Wertschätzung, zu Ehrbarkeit über Verlässlichkeit führt. Das heißt geradlinige Wahrheitsliebe, Redlichkeit und Pünktlichkeit. Ohne Ausnahmen und Umwege. Darüber wurde gar nicht geredet.

Als Vorschulkind hatte ich von dem sehr geschätzten Bruder meiner Mutter ein schönes englisches Buch bekommen. Mit farbigen Bildern auch meiner Lieblingstiere – der Pferde. Ein neben dem Muttertier stehendes Fohlen hatte es mir angetan. Nach mehrfacher Betrachtung legte ich ein dünnes durchscheinendes Papier darauf und zeichnete die Umrisslinien nach. Ich hatte das Pferdekind und war glücklich über meinen Erfolg. Vaters Interesse an meinem Tun war mir wohl bekannt. Also präsentierte ich gleich bei seinem Heimkommen strahlend: „Schau, was ich gezeichnet habe!“ „Ja, schön.“ „So schau doch!“ „Das hast du nicht gezeichnet, das ist abgepaust!“ „Ich habe das gezeichnet.“ Mein Vater blättert in dem am Tisch liegenden Buch, findet das Fohlen und deckt es mit meinem Werk; er blickt mich an: „So!“ „Ich habe das gezeichnet!“ Enttäuscht, aufgeregt war ich und hörte: „Du sollst nicht lügen! – Schau, überlege es dir noch einmal.“ Nach einigen Stunden Bedenkzeit – für mich zwecks Widerruf, für Vater, um mit Mutter Überlegungen zwecks Züchtigung anzustellen, menschliche Demonstration; Kopie auf das Original gelegt. Ich beharre „gezeichnet“. Nun bekam ich Schläge, keine Prügel. Es blieb in meiner Erinnerung die einzige Züchtigung. Ein trauriges Missverstehen der Fantasie des Fünfjährigen und des Wahrheitsbegriffes.

In merklich gespannter unruhiger Stimmung kam der März 1938. Schlagartig kam es zu Umbenennungen, Umwertungen – zu einem „Umbruch“. Für mich undurchschaubare Realität. Beispiele für viele Männer in jüngerem Alter mit geringem Ansehen und arbeitslos waren Hansl B., Karl R., und die Brüder H. Sie waren überraschend in Stiefeln und braunen Uniformen überaus geschäftig, einflussreich in der neuen Ortsgruppe der NSDAP; umworben von den einen, gefürchtet von anderen.

Für mich war der schmerzliche Tod Großvaters das wichtigste Ereignis. Zum letzten Mal begleitete ich in auf dem so vertrauten Friedhof zu Großmutters und seinem Grab. Sein Freund, Hochwürden Pater Kolar, nannte ihn einen echten Ehrenmann. Am Abend nach dem Begräbnis waren noch Verwandte bei uns daheim. Mein Bruder und ich waren zum Schlafen geschickt worden. Trotzdem hörte ich genau den aus England angereisten Sohn des Großvaters sagen: „Das gibt sicher Krieg! .... Hitler dieser Verbrecher.“ „Habe Dieere“ hörte ich fast nie mehr, „Grüß Gott“ seltener. „Heil Hitler“ und der erhobene rechte Arm waren die neue Art zu grüßen. Vom jungen Lateinschüler übersetzt hieß „Illegal“ ungesetzlich, bedeutete aber etwas Ehrenvolles. Die Vereinigung der „Ostmark“ mit dem Reich hatte stattgefunden, aber unser dreieckiges Schülerabzeichen, wo draufstand „Seid einig“, durften wir nicht mehr anstecken.

Der vornehme Baron Liechtenstein aus dem 2. Stock, er trug gerne eine Krawattennadel mit Perle, wurde gleich neben unserem Haustor mit „Judensau“ beschimpft. Auf die Auslagenscheiben von Gottesfeld, Fischer v. Löhr und auch beim Flamm und vielen anderen Geschäften waren große Davidsterne gemalt und "JUD" gepinselt.

Die Synagoge am nahen Humboldtplatz war ausgebrannt; ohne Einsatz der Feuerwehr ,deren Station um die Ecke lag. Unserem Wohnhaus gegenüber war das Polizeiwachzimmer mit einer großen schwarzen Schautafel. Darin regelmäßig „Der Stürmer“. Eine Schlagzeile in der SS-Zeitung „Der Jude ist ehrlos“. 

Das galt also auch für entfernte Verwandte und Freunde der Familie, für Schulkollegen und unseren Hausarzt Dr. Spitzer. Sie waren mit einem Stern gekennzeichnet, eingeschüchtert, selten zu sehen oder verschwunden. Für "ehrlos" erklärt bedeutete gleichzeitig wehrlos zu sein.

Im Anschlagkasten, im "Stürmer", las ich auch das Motto der SS „Unsere Ehre ist die Treue.“ Anständigkeit war bei uns ein wichtiger Begriff. Im Textilgeschäft der Mutter bedeutete es ordentliche Ware zu fixen Preisen. Für Vater war es beruflich die Korrektheit im Aktiendepot der Länderbankzentrale. „Das ist das Aufbewahren von sehr wertvollen Papieren für fremde Leute“, war seine Erklärung für mich. Das gefiel mir. Freilich auch, dass meine Eltern eine mustergültige Ehe führten.

Im elften Lebensjahr wechselte ich von der Volksschule an das Elisabeth-Gymnasium und fand mich dort in einer neuen Welt wieder. Wenngleich ich am schulischen Würstelstand von den Großen höherer Klassen als „Gschrapp“ weggedrängt fast nie innerhalb der Pause an meine Teewürsteln gelangte, so wurde ich vom Herrn Biologieprofessor per Sie angesprochen. Er war der Einzige. Die Anrede passte allerdings zu den kleinen schmalen Visitenkarten, dem Weihnachtsgeschenk der Mutter meines Vaters, die mich als "stud. gymn." auswiesen. Von Prof. Rosenkranz fühlten wir uns deutlich respektiert, was mich mehr als zwanzig Jahre später dazu ermunterte, meine jugendlichen Patientinnen und Patienten ebenfalls mit Sie anzureden, um gegebenenfalls schnell zum gewünschten Du zu wechseln.

1939 musste mein Vater als k.u.k. Fähnrich des Ersten Weltkrieges ein neues Ehrenkleid anziehen, das der Deutschen Wehrmacht. Auch Professoren des Gymnasiums zogen Uniformen an und zeigten sich damit. Parteibraun, Feldgrau, Marineblau. Meine blaugraue der Luftwaffe war zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig genäht, wie ich geahnt hätte, sie einmal anziehen zu müssen. 

Kommentarlos waren der Herr Direktor und etliche Lehrer verschwunden. Hingegen gab es neue Gesichter, Abzeichen, Fahnen und Hitlerbüsten. Neue Lehrbücher, Staatsgrenzen, Feiertage und neue Notenskalen. Leibesübungen täglich, Religion Freigegenstand. Der Deutsche Gruß war verpflichtend. Alles zusammen für den Zwölfjährigen reichlich verwirrend. Bald waren meine Hauptinteressen außerhalb der Schule. Nur einmal durfte ich eine Ehrengabe für Leistung entgegennehmen. „Das Lied der Getreuen“ hieß das Buch. Täglich Fußball, Rad fahren so viel als möglich. Stehplatz in Oper oder Burgtheater ein- bis zwei Mal wöchentlich. Museumsbesuche mit Jahreskarte oft nur in einer Abteilung. Regelmäßiges Taschengeld, eigenes Bücherregal sowie häufiger Kontakt zu einer verständigen Buchhändlerin begünstigten meine Leselust sowie den Besitz von Büchern. Schullektüre Friedrich von Schiller, "Wilhelm Tell" – Rechtschaffene, ehrenwerte Bürger der Schweiz erweisen gerne der Monstranz ihre Reverenz. Jedoch „Dem Hut soll gleiche Ehre wie ihm selbst geschehen“ lehnen sie ab. Das Motto des Tell: „Ich tue recht und scheue keinen Feind“ birgt in sich den Konflikt. Später begegnet er dem feindlich gesinnten Landvogt, „wo nicht auszuweichen war“, erkennt dessen Hilflosigkeit, benimmt sich ehrenhaft und handelt rettend. Das war kühn und gefiel mir sehr. Anschließend kommentiert seine Frau Hedwig: „Er hat vor dir gezittert. Wehe dir! Dass du ihn schwach gesehen, vergibt er nie.“ Diese weibliche Sensibilität für das Selbstwertgefühl von Männern bemerkte ich gar nicht. Hedwig wird noch deutlicher: „O rohes Herz der Männer. Wenn ihr Stolz beleidigt wird, dann achten sie nichts mehr, sie setzen in der blinden Wut des Spiels das Haupt des Kindes und das Herz der Mutter!“

"Torquato Tasso" von Johann Wolfgang von Goethe. Die Prinzessin: "Erlaubt ist, was sich ziemt ... Willst du genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an ... Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte.“ Zu spüren war hier der Unterschied zwischen „weiblicher Ehre“ und „männlicher Ehre“.

Im Krieg waren die Plätze der großen Kaiserloge des Wiener Burgtheaters reserviert für Kriegsversehrte. Wenn diese herein kamen, teilweise geführt wurden, erhoben sich die übrigen Besucher und Besucherinnen. Am Feld der Ehre hatten die jungen Männer Gesundheit und Gliedmaßen gelassen. Viele andere das Leben. Stolze Trauer blieb den Frauen, manchen ein Mutterkreuz. Zu den Helden der Deutschen Lager waren bereits viele neue gekommen. Zum Teil freiwillig die Ehre suchend. Beförderungen, Sonderurlaube, Auszeichnungen, Sondermeldungen. Einarmige Ritterkreuzträger besuchten uns in der Schule und erzählten aus ihrer Welt. Von Bomben auf England, von Schiffsuntergängen, brennenden Panzern, Flussüberquerungen, Fallschirmabsprüngen und von Kameraden. Lebendige Schilderungen von so viel Vernichtung und Tod. Wochenschauberichte und Rundfunksendermeldungen waren Alltag und blieben trotzdem ferne.

Um zwei Mark fünfundachtzig hatte ich eine Knaur-Dünndruckausgabe des "Don Quixote" erstanden... Der irrende Ritter, seiner Berufung streng folgend, sein Leben in den Dienst der Ehre stellend, war ein Liebling geworden. Gar manches blieb dem Vierzehnjährigen völlig unverständlich. Aber Don Quixote mochte ich! Mut hatte er und Recht hatte er trotz aller Fehlschläge und Irrtümer. Sancho hatte ihn auch treulich gemocht. 

Der Recke Siegfried – vom „Ring der Nibelungen“ wohl bekannt – blieb für mich ein bärenstarker Protzer. Ihn wollte ich nicht zum Freund.

Dann, am 15. Feber 1943, war es so weit. In der sechsten Klasse erhielten wir den Einberufungsbescheid zur Fliegerabwehr. Der Direktor sprach von Ehrenpflicht, meine Mutter von Wahnsinn. Zwei Tage später trug ich Uniform, lernte Rangabzeichen und übte am Kasernenhof Ehrenbezeigungen. Drei Schritt vorher, drei Schritt nachher – so war ab jetzt zu grüßen. Am 4. Februar hatte der „Völkische Beobachter“ geschrieben: „Der Kampf der Sechsten Armee um Stalingrad ist zu Ende. Sie starben, damit Deutschland lebe, getreu ihrem Fahneneid.“ Noch lebten im Kessel am Don zweihunderttausend Kameraden. Über hunderttausend sollten noch zugrunde gehen. Wir lernten Flugzeuge erkennen, Entfernungen messen, Kanonen bedienen. Wir erlebten Bombenangriffe, Flugzeugabstürze, betrunkene Vorgesetzte, Dreck und Kälte. Wir lasen mit verteilten Rollen "Julius Cäsar" von Shakespeare und debattierten über die Grabrede des Mark Anton; dass er den Brutus ehrenwert nennt, mehrmals sogar. Die Verleihung des Flak-Kampfabzeichens fand ich als eine entsprechende Anerkennung für anderthalb Jahre Dienst als Luftwaffenhelfer. Es hob mich heraus. Echte Freude empfand ich nicht. Erst vierzig Jahre später, als ein kriegsbegeisterter Vorgesetzter mit seinen einstigen Verdiensten imponieren wollte, übertrumpfte ich ihn damit genussvoll – kindisch!

Zwischen Flakdienst und Alarm viel Lektüre als Rückzug in eine schmale Privatsphäre. Ich empfand es beglückend; vielleicht war es sogar rettend. Shakespeare, Bonsels, Rilke, Homer, Claudius, Schnitzler. „Leutnant Gustl“ – Duell oder Selbstmord zur Wiederherstellung verlorener Ehre – 17-jährig mitten im Krieg. Ich ahnte, verstand wahrscheinlich nicht.

Fehlgeschlagenes Attentat auf Hitler. Prompt Degradierungen, Erschießungen hochdekorierter Offiziere. Volksgerichtshof lässt Wahrmachtsangehörige erhängen. Feldmarschall Rommel „Held von Afrika“ – tot. Gemunkel von erzwungenem Selbstmord. Ehrenbegräbnis, Wagnermusik im Rundfunk. Ab sofort gilt für die gesamte Wehrmacht der Deutsche Gruß als Ehrenbezeigung. Niederlagen an den Fronten, Mängel aller Arten. Damals Zeitgenosse, Zeitzeuge – mitten drinnen ohne jeden Überblick! Uninformiert ohne Möglichkeit, Klarheit zu gewinnen ,wie das heute und hier unvorstellbar ist. Ausgeliefert der Propaganda, Gerüchten und eigenen Zweifeln. Die Instanz des Gewissens erlebte ich bewusst. Ebenso hilfreich die tägliche Erfahrung, was zu ertragen ich in der Lage war. Müdigkeit, Hunger, Aussichtslosigkeit und Bilder – immer wieder grauenvolle Szenen. Nachts, Güterzug am letzten intakten Bahngeleise. Fackelbeleuchtung durch verdreckte Gestalten in zebragestreiftem Gewand mit grauen Gesichtern und kahlen Schädeln. Nach Öffnen der Wagen Entladung. Kahl  Geschorene treten ebenso kahl Geschorene mit Füßen aus den Viehwaggons und schlagen zwecks Beschleunigung noch mit brennenden Fackeln über die Schädel. Tageslicht. Marschblöcke der Häftlinge zu Hundertschaften. Wer stehen bleibt oder den Marschblock verlässt, wird augenblicklich erschossen. Er bleibt bei seiner Hundertschaft. Er wird, wie andere, die auch nicht mehr gehen können, von den Marschierenden der letzten Reihe, gehalten an den Beinen, am Rücken liegend nachgeschleift. Am Straßenpflaster wippt dabei der kahle Schädel auf und ab. „Wer diese Macht einmal verspürt hat, diese unbeschränkte Gewalt über Körper, Blut und Geist eines ebensolchen Menschen, wie er selbst einer ist ..., wer die Macht und absolute Möglichkeit verspürt hat, ein anderes Wesen ... aufs Tiefste zu demütigen, der verliert notgedrungen die Herrschaft über seine Gefühle ... Blut und Macht berauschen.“ Fjodor M. Dostojewski, 1861. „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus schildern, was er selber in der Verbannung mit Zwangsarbeit erlebt hat. Die „Katorga“  des 19. Jahrhunderts ist der „Archipel Gulag“ des Alexander Solschenyzin 1967. Wenige Wochen nach meinen Erlebnis in Amstetten war Hitler tot; dann der Krieg aus, die Uniform aus, die Nazis unten, die KZler oben. Viele Ängste weg und neue Hoffnung da. Noch bin ich nicht 18 Jahre alt.

Wiederum verschwinden Menschen. Wiederum kommen neue Gesichter, neue Fahnen, Uniformen, auch neue Zeitungen, Melodien, Zigaretten. Neu ist auch, dass Vieles offenbar wird. Auch was in meiner näheren Umgebung bekannt gewesen war, aber verschwiegen wurde. Schweigen ist immer noch vielfach angebracht. Wie schnell mit dem Leben auch der Sprachbrauch sich ändert, ist beeindruckend. Alarm, Befehl, Gehorsam, Feind, Front, Führer, Marschieren ... – kaum mehr zu hören, da unnötig, eventuell belastend. Pflicht, Treue und Ehre verpönt. Sogar Ansehen, Achtung, Ehrerbietung waren verdächtig und wurden gemieden. Ich erinnerte mich des Wortes Respekt und nahm es in meinen Gebrauch. Auf meiner Flucht aus russischer Gefangenschaft war ich in die amerikanische Zone gelangt. Erschöpft betrete ich zögernd um die Mittagszeit eine Bauernstube. Um den Tisch sitzen die Bäuerin, ein Mann und vier Kinder. Das Essen ist bereits verteilt. Sechs Häufchen ungeschälter Kartoffeln und frische Gurkenstücke. Der Vater weist mir einen Platz an, nimmt von jedem eine Kartoffel , eine Gurkenscheibe und legt das vor mich hin. Nach einem Tischgebet essen wir. Ich war als Gast angenommen – geehrt worden.

Der Beginn des Universitätsstudiums Monate später war für mich ein Lichtblick, die große Hoffnung einmal Arzt zu werden. Wichtig war, dass ich in einer christlichen Studentengemeinde geistige Heimat fand. Unser Respekt vor den Leichen im Seziersaal war ebenso vorhanden wie vor dem Kranken. Einige Professoren imponierten durch Haltung und Wissen. Verehrung hatte ich für einzelne priesterliche Persönlichkeiten. Ich begegnete Menschen mit fantastischen Biographien, strahlenden Gedanken und gläubiger Hoffnung. Gleichzeitig war mein Vater noch in russischer Gefangenschaft, der Bruder noch nicht heimgekehrt, das Geschäft geplündert. Die Mutter, gesund und lebenstüchtig, war nicht verzagt; vertrauensvoll gläubig. Trotz des oftmals deprimierenden Lebens in der russischen Zone.

Bemerkenswerterweise lagen meine beiden Welten, Wohnen und Studieren, räumlich getrennt in verschiedenen Besatzungszonen. Dazwischen gut vier Kilometer Fußmarsch. Viel zu sehen, aber auch Gelegenheit zu denken. Suchen nach festem Grund in dem Auf und Ab. Nach kurzer Zeit war das auch an der Universität erkennbar geworden. Bei den Instituten und Lehrkanzeln. Erst geschätzt, hoch geachtet, dann geächtet, vertrieben. Erst 1938, dann 1945. Friedlos, ehrlos, rechtlos. Der Bann kam in letzter Zeit von Parteisekretariaten, nicht mehr vom Vatikan. Der Abbau von Autoritäten, sowie der Verlust von Macht interessierte mich nach dem Zusammenbruch sehr. Die komplizierten, verflochtenen Beziehungen von Macht, Position, Mitteln, Ehre, Bildung, Religion, Politik zu diskutieren, das war für uns Studentinnen und Studenten lebenswichtig. So brachte beispielsweise ein Tiroler Kollege die Verehrung des kleinen Anderle von Rinn ins Gespräch. Er verstand es als Missbrauch eines toten Kindes. Weil die Verehrung des Kleinen zur Verächtlichmachung von Juden führte.

„Die Kraft und die Herrlichkeit“ von Graham Greene. Jämmerlich, herunter gekommen, ängstlich und versoffen – dennoch Trost und Sakramente spendend. Den Geist, der einen armseligen Priester wirken lässt, verehrten wir. Nach diesem Heiligen Geist strebten wir. Ich besuchte regelmäßig Viktor Frankls Mittagsvorlesung. Der ehemalige KZ-Häftling steht im weißen Arztmantel im Hörsaal der Wiener allgemeinen Poliklinik und spricht klar über die Würde von Menschen. Darüber, dass Leid immer persönlich und nicht messbar ist. Über den Sinn des Lebens – jeden Lebens, unter allen Umständen. Und dass Schuld niemals kollektiv sein kann. Das war ein geistiger Leuchtturm in einer Zeit menschlicher Anschuldigungen, Demütigungen und Verteufelungen. „Auch ich habe gelitten!“ „Auch du bist schuldig geworden!“ Sollte dieses gegenseitige Aufrechnen nicht enden?

Im Straßenbild waren Männer, denen Gliedmaßen oder ein Auge fehlte, gar nicht selten. In Gesellschaft sagten sie relativ freimütig, wo sie Arm oder Bein gelassen hätten. „Meine Familie ist getötet worden – ich habe kein Zuhause mehr“ zu sagen, fiel den meisten viel schwerer. Wo Menschen gedemütigt, gefoltert, vergewaltigt wurden, wie man entehrte und entmenschte, darüber wurde zumeist geschwiegen. Sogar jahrelang.

Wann und wie Menschen ihre Ehre tatsächlich verlieren, selber preisgeben, wissen sie zumeist nicht. Dieses zu entdecken, ist mühevoll, schmerzvoll und braucht Zeit. Vor den Augen der Gesellschaft das Ansehen verloren zu haben, schmerzt, weil es einen Ausschluss bedeutet. Wiedereingliederung – Rehabilitierung – ist eine wichtige Bestrebung. Wertvoller als Wiedererlangung von Gut und Geld.

Ging es bei der Ausstoßung um bewiesene oder zweifelhafte Tat oder um einen ideologischen Makel, eine herbeigeredete Minderwertigkeit? Um bloßen Machtmissbrauch? Der herrschende Kulturkreis bestimmt über die Möglichkeiten einer Rehabilitation. Kränkungen, Zerstörung des Selbstbildes von Menschen können nicht getilgt werden. Der Versuch, altes Unrecht wieder gut zu machen, birgt die große Gefahr in sich, neues Unrecht zu schaffen. „Keiner steigt jemals in den selben Fluss.“ Demnach gibt es immer noch die Gepflogenheit von Sippenhaaftung und auch von Blutrache. Zur Tragödie muss es kommen, wenn die Gepflogenheit eines Kulturkreises in einem anderen zur Anwendung kommt.

Die Leiden derer, denen Rehabilitation verweigert wird, sind schwer mit zu fühlen. Wie muss es Martin Luther ergangen sein? Oder Galileo Galilei? Dutzende sind noch bekannt, Millionen versunken im Vergessen. Schiller bearbeitet einen aktuellen Kriminalfall in „Verbrecher aus verlorener Ehre“ und erörtert die psychologischen Spannungen der gekränkten Person. Johann Nestroy beleuchtet in einer politischen Komödie „Der alte Mann mit der jungen Frau“ (1849) den Ehr-Verlust. Er zeigt dabei gen<u den Unterschied der gesellschaftlichen Folgen auf für einen „seidenen Schnupftücheldieb“ und einen „politischen Verbrecher“. Übrigens zugunsten des Kleinkriminellen. Nicht im Strafausmaß, sondern hinsichtlich der Rehabilitation.

„Durchlaucht, Exzellenz, Hochwürden" oder "Habe Dieehre“ war nicht mehr zu hören.

In die Wiener medizinische Fakultät als Dozent aufgenommen zu sein, empfinde ich nach wie vor als Ehre. Mit der Verpflichtung, aus der Position des Lehrers und aus der Möglichkeit der Person zu handeln.

Eine Bemerkung noch zur Standesehre. Es darf allgemein von einem Arzt erwartet werden: Eine bestimmte Ausbildung, ausreichende Kenntnisse, Bereitschaft zur Hilfe, gültige Moralität.

Dafür wird die Gesellschaft dieser Position Ehre entgegenbringen oder vorenthalten. Hinausgehend über die der Frau Doktor oder dem Herrn Doktor als menschliches Individuum entgegen gebrachte Ehre. 

Ärzte und Patienten – beide Gruppen haben Wunschbilder voneinander. „Götter in Weiß“. Das sind einmal Mediziner, die schwer erreichbar, kurz angebunden, hochtrabend sich in ihrer Pose gefallen. Zum anderen sind es Ärzte, auf die Menschen in höchster Not – sowohl Patienten als auch Angehörige – das Wunschbild des Heilands projizieren. Dieses göttliche Bild verblasst bei günstigem Krankheitsverlauf allmählich. Es genügt jetzt die Vorstellung vom engagierten kundigen Fachmann. Sogar das Umschlagen in ein Negativbild geschieht, wenn der Genesene sich ungern erinnert, wie armselig, schwach und abhängig er sich zuvor dem Helfer gegenüber gefühlt hat. Diesen „Gesichtsverlust“ empfindet der Patient peinlich und geniert sich. Gleichzeitig wirft er dem Arzt vor, er wäre herablassend, überheblich – eben ein „Gott in Weiß“. Als junger Arzt habe ich solchen Einstellungswechsel mir gegenüber nicht verstanden und kränkend erlebt. Neuerliche Lektüre des Tell — „Weh dir du hast ihn schwach gesehen ...“ — hat mir geholfen, den Schiller als auch die Veränderlichkeit der Patienten–Arzt–Beziehung zu verstehen. Kein Verlust der Ehre. Meinem Selbstbild tat es wohl.

Albert Camus' Rede anlässlich der Entgegennahme es Nobelpreises für Literatur am 10. XII. 1957 in Stockholm: „Die Ehre, die Ihre Freie Akademie mir mit Ihrem Preis zuteil werden lässt, hat in mir ein umso tieferes Gefühl der Dankbarkeit geweckt, als ich ermesse, wie sehr diese Auszeichnung meine persönlichen Verdienste übersteigt.“

Andernorts ... “Ja, ich bedarf der Ehre, weil ich nicht groß genug bin, um ihrer zu entraten.“

Wie das Streben nach Ehre mit Stolz, Triumph, Heldentum verknüpft ist, im Alltag auch als Politik wirksam wird, zeigt Plutarch im 1. Jahrhundert n. Chr. unnachahmlich:
Coriolan: „Für seine Kameraden war der Ruhm das Ziel ihrer Tapferkeit, für ihn das Ziel seines Ruhmes der freudige Stolz seiner Mutter. Wenn sie von seinem Ruhm hörte, wenn sie ihn im Schmuck des Siegerkranzes sah und unter Freudentränen ihre Arme um ihn schlang, das war für ihn die höchste Ehr, das seligste Glück!“ Shakespeare verdichtet in „Coriolan“ noch die anspruchsvolle Beziehung. Tragisch zerbricht der Sohn am Idol der Ehre; aufgerichtet von der Mutter. In den gleichen Kulturkreis gehört Lucretia, die Gattin des Römers Lucius Tarquinius Colltinus. In seiner Abwesenheit wird vom Königssohn vergewaltigt. Damit ist primär die Ehre der Familie geschändet, erst sekundär die Missbrauchte. Zur Wiederherstellung der verletzten Ehre wird auf zwei Ebenen gehandelt. Vater und Gatte verpflichten sich, den Wüstling zu strafen. Lucretia erdolcht sich.

In der römischen Provinz, die Pontius Pilatus verwaltet, bahnt sich eine radikale Neuordnung der Begriffe Moral, Schuld, Bestrafung und Ehre an. Hier lebt Jesus von Nazareth, lehrt, tröstet und heilt Menschen. Brüderlich hilft er, Angst zu überwinden und verweist auf das persönliche Gewissen. Das Evangelium nach Johannes (8, 3-11) erzählt: „Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“

Mein Resümee: 

Der Sitz der Götter ist stets in der Höhe.  Der Ort der Verdammten ist unten. Ehre ist mit „oben“ verbunden; ebenso Macht.

Ein wichtiges menschliches Bedürfnis ist es, verehren zu können und selber der Ehre wert zu sein.

Über Ehre befindet die Gesellschaft, sie übt dadurch Macht aus.

Wem, wann, wieviel Ehre zugemessen wird.

Wie kurzlebig Ehre sein kann.

Wo Ehre wächst, gedeihen auch Schmeichelei, Missgunst, Verleumdung.

HONORES MUTANT MORES.

Univ.Doz. Dr. Franz Rosenmayr, emeritierter Facharzt für Neurologie und Psychiatrie des Kindesalters an der Universität Wien.

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