Thomas Slunecko
Wie lässt sich Humanismus begreifen — und auch wieder loslassen?
Eine Geburtstagsrede für Peter Schmid verfasst von Thomas Slunecko

Wien, 20. Mai 2000


Auch ich habe versucht, mich vom Motto der heutigen Veranstaltung anregen zu lassen und habe darin vor allem eine Aufforderung zum Loslassen oder zum Relativieren von allzu sich festfahrenden Bemühungen um herkömmliche Ehrenhaftigkeit gelesen, eine Loslassen und Relativieren angesichts jener so ganz anderen Dimensionalität der Problemstellung, die sich aus dieser Erinnerung an das Jenseits ergibt. Für meine eigenen Überlegungen habe ich das dann versucht umzusetzen in die Frage, wie sich denn heute Humanismus – als ein wichtiger Teil in unserem Ehrenhaftigkeitsdiskurs - begreifen und eventuell auch wieder loslassen lässt ?

Ich möchte dazu von einem etwas exzentrischen Ausgangspunkte beginnen, mit der Beobachtung, dass sich bestimmte Affenarten – die meisten asiatischen Bodenaffen gehören dazu – in einer Kokosnussfalle fangen lassen und andere – insbesondere die baumbewohnenden Affen Afrikas – nicht. Die Evolutionsbiologen unterscheiden also Affen, die in die Kokosnussfalle gehen, und solchen, die es nicht tun. Sie kennen die asiatische Affenfalle: Man legt in eine Kokosnuss, die irgendwo festgemacht ist, einen Leckerbissen, dem die Affen nicht widerstehen können. Der Affe greift hinein, nimmt es, im Nehmen macht er natürlich die Greifhand, und weil er nicht mehr loslassen kann, bevor er es verzehrt hat, hat nun der Leckerbissen den Affen. Der Baumaffe hingegen kann loslassen, der Baumaffe löst Probleme schon auf einer etwas höheren Ebene, er legt z. B. ein Werkzeug, einen Stein, wieder aus der Hand, und richtet sich das Objekt, auf das er schlagen will, noch einmal richtig hin und dann greift er ein zweites Mal zu. Und er lässt sich nicht von der Kokosnussfalle fangen, eben weil er die Greifhand wieder lösen kann, wenn er merkt, dass er so nicht zum Erfolg kommt. Das ist eine evolutionäre Leistung, ohne die man die Entwicklung auf den Menschen hin nicht verstehen kann. Die Evolutionsbiologen versichern uns, dass die Menschenlinie mit großer Sicherheit von einem Affen des zweiten Griffes abstammt, der loslässt, nicht um zu vergessen, sondern um besser zu fassen. Das Entscheidende ist das Wiederloslassenkönnen, das zweite Anfassen. Man fasst etwas an – und lässt es wieder los. So wird die Affenhand zur Menschenhand – sie wird von einer Greifhand zu einer Begreif-Hand, Begriffe-Hand... der Mensch, das ist dann der Affe, der auch an Begriffen und nicht nur an Kokosnüssen festkleben kann und der dann später in der Lage sein wird, diese Begriffe kultisch zu umtanzen und große Kriege um sie herum zu veranstalten.

Manche von Ihnen werden vielleicht wissen, dass ich mich vor einigen Jahren in der vergleichenden Zusammenschau von Psychotherapietheorien mir einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Figur beschäftigt habe, die an die Thematik der Affenfalle sehr anschlussfähig ist, weil sie uns auch dazu auffordert, etwas loszulassen, um es neu, um es in einem größeren oder zumindest veränderten Kontext begreifen zu können.

Wir haben diese Denkfigur damals Verfremdung genannt, es klingt manchen weniger befremdlich, wenn man von Kontextwechsel spricht, manche finden die eigentliche Kraft, die in dem Gedanken steckt, dann allerdings verwässert und so will ich für heute den ursprünglichen Ausdruck Verfremdung noch einmal beibehalten.

Verfremdung fordert uns auf, einen bestimmten Ausschnitt unserer Lebenswelt und wenn wir Wissenschafter sind, vor allem Aussagen und Bestandteile unserer Theorien, versuchsweise in einen neuen Kontext zu stellen. Es interessiert dabei nicht der Punkt, wo diese Transformation, diese Übersetzung gelingt und das übertragene Element im neuen Kontext genauso gut funktioniert wie im alten, sondern es interessierte uns der Punkt, wo diese Übersetzung scheitert, wo sie unmöglich ist, wo das ursprünglich in einen sinnvollen Zusammenhang eingebettete Element im neuen Kontext unverständlich bleibt oder wird. Gerade am Unsinnigwerden von Handlungen oder Begriffen, so war in Anlehnung an Wittgenstein die Hoffnung, am Scheitern von bisher geläufigen Handlungen und Konstruktionen offenbaren sich die Bedingungen, die für ihr sinnvolles Funktionieren im Ausgangskontext entscheiden waren, aber dort so selbstverständlich und so ansozialisiert waren, dass sie als Relevanzstrukturen unsichtbar geblieben sind.

In der Rückschau stellt sich heraus, dass man dieses Vorgehen der Verfremdung nicht, wie das zunächst gemeint war, ahistorisch anlegen kann, weil man sonst immer von Null anfangen muss und zu müssen und die Welt sozusagen aus dem Stand neu erfinden zu wollen. Sondern dass es vor allem interessant ist zu verfolgen, wie sich Geschichte unter sich verändernden Bedingungen selbst zitiert. Eine solche kulturhistorischen Besinnung, das ist nun mein eigener Ausgangspunkt, müsste heute vor allem eine medien- und systemtheoretisch informierte Kulturhistorie sein.

Nun, historisch gesehen, haben Europäer auch beim Humanismus mehrfach zugegriffen und das ist eben jenes Moment oder jene Frage, die ich hier heute mitbringen wollte, weil ich sie für eine der wesentlichen halte, die sich der Kultur als zu lösende Aufgabe heute stellt und die auch diese große Raunen im Blätterwald des deutschen Feuilletons seit einem dreiviertel Jahr im Anschluss an den Abdruck einer Rede Peter Sloterdijks in der Zeit verursacht hat: die Frage, ob wir uns von der so liebgewordenen Berufung auf Humanismus lösen müssen, weil wir diesem Begriff auf den Leim gegangen sind, und wie der asiatische Baumaffe in ihm wie in einer Kokosnussfalle gefangen?

Wenn ich gerade von dem mehrfachen Zugriff auf den Humanismus gesprochen habe, dann habe ich dabei vor allem jenen letzten großen Zugriff nach dem zweiten Weltkrieg vor Augen, der mir deswegen besonders interessant erscheint, weil wir aus der Soziokybernetik jetzt gute theoretische Sehhilfen (Mühlmann) und Befunde dafür haben, dass sich Kollektive, die in einen Maximalstress hineingelenkt wurden, genau dann, wenn sie aus diesem Maximalstress wieder in den Normallauf zurückkehren, allerschleunigst ihre kulturelle Identitätsstiftung verpassen müssen. Als sich die mitteleuropäischen Kulturen nach der Katastrophe von 1945 wieder einrenken müssen, nach einem neuen Decorum, einem neuen Schicklichen suchen, greifen sie dabei auf die Figur des Humanismus zurück, der schon Jahrhunderte früher in der Austreibung des Mittelalters eine Berufung auf eine alte oder imaginierte Menschlichkeit gewesen ist. In Frankreich wie in Deutschland war nach '45 die Frage des Wiederbelebens und Erneuerns des Humanismus nach den Jahren der Barbarei und des Verrats besonders aktuell; wohl nicht zufällig befassen sich unmittelbar nach 1945 die größten Denker dieser beiden Nationen mit der Humanismusfrage: Sartre hält am 29. Oktober 1945 seine legendäre Vorlesung, die unmittelbar darauf als ‚Ist der Existentialismus ein Humanismus?’ als Essay in ganz Europa in Umlauf kommt und die Gemüter bewegt und bis zum heutigen Tage in unseren Oberstufen gelesen wird. Rüdiger Safranski fasst Sartres Antwort auf die Frage nach dem Schicksal des Humanismus in einer Zeit, die soeben Exzesse erlebt hat, folgendermaßen zusammen: „Humanistische Werte, auf die wir uns verlassen können, weil sie angeblich in unserer Zivilisation fest installiert sind, gibt es nicht. Es gibt sie nur, wenn wir sie jedes Mal in der Situation der Entscheidung wieder neu erfinden und wirklich werden lassen“. Der Existentialismus Sartrescher Prägung stellt den Menschen vor diese Freiheit und die damit verbundene Verantwortung, er ist daher eine Philosophie des Engagements: „Der Existentialismus sagt dem Menschen, dass es Hoffnung nur im Handeln gibt und die Tat das einzige ist, was dem Menschen zu leben erlaubt; – ein Mensch engagiert sich in seinem Leben, zeichnet sein Gesicht, und außerhalb dieses Gesichts ist nichts vorhanden; wir sind verlassen, ohne Entschuldigung. Das meine ich, wenn ich sage, der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“ (Sartre, 1945). Der Existentialismus ist nun deswegen ein Humanismus, weil „wir den Menschen daran erinnern, dass es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt und dass er in seiner Verlassenheit über sich selbst entscheidet, und weil wir zeigen, dass nicht durch Rückwendung auf sich selber, sondern immer durch eine Suche nach einem Ziel außerhalb seiner selber, welches diese oder jene Befreiung, diese oder jene besondere Verwirklichung ist – dass dadurch der Mensch sich als humanes Wesen verwirklichen wird“ (Sartre, 1945).

Von diesem Zitat her wird zum einen die unmittelbar einsetzende Kritik von konservativer Seite an Sartre verständlich, die moniert, dass er sich in einem geschichtlichen Augenblick, in dem es sich gerade erwiesen hat, wie zerbrechlich die Werte der Zivilisation sind, dass er in dieser prekären Situation die ethischen Normen noch weiter dadurch schwächt, dass er sie dem einzelnen überlässt, über ihre Gültigkeit zu entscheiden.

Zweitens erhellt auch der Sartresche Begriff des Transzendierens; denn der Mensch ruht nicht fertig in sich selbst, er wird aus sich herausgetrieben und muss sich immer erst noch verwirklichen. Was er verwirklicht , ist seine Transzendenz, diese ist aber nicht verstanden als ein Jenseits, sondern als ein Inbegriff der Möglichkeiten, auf die hin der Mensch sich überschreiten kann. Transzendenz ist nichts, worin man Ruhe finden könnte, sondern sie ist selbst das Herz der Unruhe. Dagegen hätten wir ja als Psychotherapeuten, die sich auf Humanismus berufen, ja nichts einzuwenden.

Aber nun zum Problematischen dieses zweiten Zugreifens: Auch der Sartresche Humanismus, wie jeder Humanismus vor ihm, geht davon aus, dass das Subjekt seiner selbst mächtig ist oder zumindest immer mehr werden kann. Peter Schmid hat übrigens selbst einmal, im ersten Heft der Zeitschrift Person, darauf hingewiesen, dass auch im personzentrierten Ansatz über die Zentralidee der Selbstaktualisierung eine bestimmte Form von Egologie weitergetragen wird, die – ich zitiere „die Ideale der humanistischen Bewegung insgesamt in einem neuen Licht“ – nämlich – und hier interpretiere ich jetzt –  in einem sehr kritischen Licht erscheinen lassen.

Ich-Individuen, die die Aufgabe, ja die Pflicht zur Selbstverwirklichung haben, und die die Basiselemente von Kulturzähmung sind – von dieser vernunftromantischen Vorstellung vom demokratischen Basissubjekt, das wissen könnte, was es tut und was es will, und das sich selber transparent ist, müssen wir uns wahrscheinlich weiter als es uns lieb ist verabschieden und zwar gar nicht so sehr aus den psychoanalytischen Befunden, die die Vorstellung von Mündigkeit innerhalb des Individuums desavouieren. Vielmehr sprechen alle kulturwissenschaftlichen, religionssoziologischen, kulturanthropologischen und medientheoretischen Befunde dafür, dass unsere Psychen und Mentalitäten Wachsfiguren sind, die im historisch-kulturellen Wind geformt werden, vor allem durch Sprache, durch Metaphorisierung geformt werden, dass wir also den geschichtsmächtigen, den mentalitätsbildenden Diskurs 1. als Kollektive und nicht als einzelne betreiben und 2. niemals mit inhaltlichen Bewusstsein dessen betreiben, was wir tun: Auf eine kurze Formel gebracht, die ich mir von Bourdieu (1979, S. 179) entlehne: die Subjekte wissen zwar nicht, was sie tun, tun aber immer mehr als sie wissen. Das ist hier zwar prinzipiell und durchgängig gemeint, wird aber spätestens in jenem Augenblick deutlich, in dem der einzelne von der Masse erfasst und mitgerissen wird. Spätestens dann kollabiert die vernunftromantische Vision vom demokratischen  Subjekt, das wissen könnte, was es will, und das sich selbst transparent ist.

Vor allem aber, so zeigt die moderne Medientheorie werden Mentalitäten nicht direkt – d. h. nicht über Inhalte, wie etwa Humanismus ein Inhalt ist – geformt, sondern unsere Mentalitäten stellen vor allem anderen Effekte unseres Mediengebrauches dar. McLuhans berühmter Satz ‚the medium is the message’ heißt ja nichts anderes, als dass Medien eben gerade nicht über ihren Inhalt uns zu beeinflussen vermögen, sondern weil sie in unsere Seins- und Weltverfasstheit eingreifen, und sie können das nur darum in dieser unglaublich dramatischen Weise, weil wir sozusagen von ihrem Inhalt hypnotisiert sind und nicht merken, was jenseits allen Inhalts mit uns durch den Mediengebrauch passiert.

Mit diesem Hinweis auf Medientheorie bin ich bei der angekündigten Diskussion um den Humanismusbegriff angelangt, der sich seit einem Jahr etwa um Peter Sloterdijks Schrift ‚Regeln für den Menschenpark’ entzündet: Denn das wesentlich Neue an seinem Einstieg in die Problematik besteht darin, den Humanismus als einen Medieneffekt auszuweisen:

„Man könnte somit das allen Humanismen zugrundeliegende kommunitarische Phantasma auf das Modell einer literarischen Gesellschaft zurückführen, in der die Beteiligten durch kanonische Lektüren  – moi: also durch Medien – ihre gemeinsame Liebe zu inspirierenden Absendern entdecken. ... Wo der Humanismus dann pragmatisch und programmatisch wurde, wie in den Gymnasialideologien der bürgerlichen Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert, dort weitete sich das Muster der literarischen Gesellschaft zur Norm der politischen Gesellschaft aus. Von da an organisierten sich die Völker als durchalphabetisierte Zwangsfreundschaftsverbände, die auf einen jeweils im Nationalraum verbindlichen Lektürekanon eingeschworen wurden. Was sind die neuzeitlichen Nationen anderes als die wirkungsvollen Fiktionen von lesenden Öffentlichkeiten, die durch dieselben Schriften zu einem gleichgestimmten Bund von Freunden würden?
......
Wenn diese Epoche heute unwiderruflich abgelaufen scheint, so nicht, weil die Menschen aus einer dekadenten Laune ihr nationales literarisches Pensum nicht mehr zu erfüllen bereit wären; die Epoche des nationalbürgerlichen Humanismus ist an ein Ende gelangt, weil die Kunst, Liebe inspirierende Briefe an eine Nation von Freunden zu schreiben, auch wenn sie noch so professionell geübt würde, nicht mehr ausreichen könnte, das telekommunikative Band zwischen den Bewohnern einer modernen Massengesellschaft zu knüpfen. Durch die mediale Etablierung der Massenkultur in der Ersten Welt 1918 (Rundfunk) und nach 1945 (Fernsehen) und mehr noch durch die aktuellen Vernetzungsrevolutionen ist die Koexistenz der Menschen in den aktuellen Gesellschaften auf neue Grundlagen gestellt worden. Diese sind, wie sich ohne Aufwand zeigen lässt, entschieden post-literarisch, post-epistolographisch und folglich post-humanistisch. 

Die Ära des neuzeitlichen Humanismus als Schul- und Bildungsmodell ist abgelaufen, weil die Illusion nicht länger sich halten lässt, politische und ökonomische Großstrukturen könnten nach dem Modell der literarischen Gesellschaft organisiert werden.“

Dass das Projekt der Menschenzähmung nach dem Modus des Humanismus der Aufklärung gescheitert ist, hat also mit der heute relativen Ohnmacht der Erziehung durch den Buchstaben im Verhältnis zu den Verbildungskräften zu tun, die von einer entfesselten nicht mehr Buchstaben, sondern Bilderkultur, die von einer Kultur der methodischen Massenerregung, lanciert worden sind. Die soziale Synthesis ist nicht mehr – auch nicht mehr scheinbar – über Lesen und Schreiben zu gewährleisten. Es sind inzwischen neue Medien der politisch-kulturellen Telekommunikation in Führung gegangen.

Das Humanismusproblem scheint sich uns daher in erster Linie in der Weise zu stellen, dass wir uns fragen müssen, wie kann eigentlich unter den Bedingungen dieser veränderten Mediensituation das eigentliche Anliegen der humanistischen Erziehung, nämlich selbstbewusste, ‚kritische’, also nicht banalisierte Menschen hervorzubringen, wie können wir das Programm, das im 17. Jahrhundert formuliert worden ist als ein ‚aus Leuten Menschen machen’ unter Bedingungen wiederholen, in denen Schule und Buchkultur zunehmend aufhören, der eigentliche Prägestock der Gesellschaft zu sein. Dazu nochmals Sloterdijk im Original:

„Diese Desillusionierung, die spätestens seit dem Ersten Weltkrieg zur Kenntnisnahme durch die noch humanistisch Gebildeten ansteht, hat eine eigentümlich zerdehnte, von Kehrtwendungen und Verdrehungen markierte Geschichte. Denn ausgerechnet am grellen Ende der nationalhumanistischen Ära, in den beispiellos verdüsterten Jahren nach 1945, sollte das humanistische Modell noch einmal eine Nachblüte erleben; es handelte sich dabei um eine veranstaltete und reflexhafte Renaissance, die das Muster für alle seitherigen kleinen Reanimationen des Humanismus liefert. Wäre der Hintergrund nicht so dunkel, man müsste von einem Schwärmen und einem Sichtäuschen um die Wette reden. In den fundamentalistischen Stimmungen der Jahre nach 1945 war es für viele Menschen aus begreiflichen Gründen nicht genug, aus den Kriegsgräueln zurückzukehren in eine Gesellschaft, die sich wieder als pazifiziertes Publikum von Lese-Freunden präsentierte – als könnte eine Goethe-Jugend die Hitler-Jugend vergessen machen. Dieser verzweifelt über Weimar nach Rom blickende Neohumanismus war ein Traum von der Rettung der europäischen Seele durch eine radikalisierte Bibliophilie, eine schwermütig-hoffnungsvolle Schwärmerei von der zivilisierenden, der vermenschlichenden Macht der Klassikerlektüre...“

In diesen Nachkriegshumanismen, für die ich stellvertretend Sartre zitiert habe, in diesen Nachkriegshumanismen, mögen sie noch so illusionsgeboren gewesen sein, verrät sich ein Motiv, ohne das sich die humanistische Tendenz im Ganzen niemals verständlich machen lässt: Humanismus hat immer ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei. Es versteht sich leicht, dass gerade jene Zeitalter, die mit dem barbarischen Potential, das in gewalthaften Interaktionen zwischen Menschen freigesetzt wird, ihre besonderen Erfahrungen gemacht haben, zugleich die Zeiten sind, in denen der Ruf nach Humanismus lauter und fordernder zu werden pflegt. Wer heute nach der Zukunft von Humanität und Humanisierungsmedien fragt, will im Grunde wissen, ob Hoffnung besteht, der Verwilderungstendenzen beim Menschen Herr zu werden.

Das Phänomen Humanismus verdient daher unsere Aufmerksamkeit heute vor allem, weil es – wie auch immer verschleiert und befangen – daran erinnert, dass Menschen in der Hochkultur ständig von zwei Bildungsmächten zugleich in Anspruch genommen werden, ständig hemmenden und die enthemmenden Einflüssen ausgesetzt sind – und dass Menschlichkeit darin besteht, zur Entwicklung der eigenen Natur die zähmenden Medien zu wählen und auf die enthemmenden zu verzichten.

Peter Schmid ist hier wie oft richtungsweisend, weil er – mit oder ohne medientheoretischen Hintergrund, das entzieht sich meiner Beurteilung, – die Zeichen der Zeit erkannt hat und in dem neuen Medium Internet so unübersehbar sein Zeichen, aufgestellt hat und damit sein Angebot, das Internet als Bildungs- und nicht als Banalisierungs- und Enthemmungsmedium zu nützen.

Das ist wichtig, denn wer den Menschen nicht verbessert, der verschlechtert ihn, es gibt hier kein folgenloses Nichtstun; Menschen sind tendenziöse Wesen und sie sind auf Entwicklung – auf Transzendierung angelegt, und sie sind sehr labil; es gibt beim Menschen keine stationäre Vulgarität, er sinkt oder er steigt, er kann nicht bleiben, wo er ist. Das ist der Grund, warum wir einen Weg finden müssen, und zwar jenseits eines bloß reflexhaften Berufens auf den Humanismusbegriff, zähmende und menschenbildende Aktivitäten zu setzen. Dazu scheint es mir in erster Linie wichtig, so wie Peter Schmid das tut, das neue Medium auch mit menschenbildenden, kulturzähmenden Elementen zu infiltrieren.

Fazit also meiner in schnellem Tempo vorgetragenen Überlegungen: Der Humanismus der Nachkriegszeit ist das Resultat einer schnellen Übertragung einer alten Figur auf die sich nach der maximalen Stresssituation des Weltkrieges sich (in einer Notsituation also) wieder in ein Schickliches sich einrichten müssenden Kultur. Es wird im Lauf der nächsten 50 Jahre zum einen politisch immer korrekter, sich auf Humanismus zu berufen (z.B. UN-Menschenrechte), zum anderen wird gleichzeitig dem Humanismus immer schneller seine kulturelle, d. h. mediale Basis entzogen. Deswegen wird der Humanismus ausgehöhlt und läuft Gefahr, zu einer manchmal mehr, manchmal weniger bewussten politischen Strategie zu verkommen.

Man könnte versteilt sagen, wir sind in der Situation von Affen, die den Leckerbissen Humanismus nicht loslassen wollen, obwohl sich rundherum schon die Tiger versammeln.  Und etwas moderater formuliert wäre der Warnhinweis: dass der Humanismus-Begriff unter Umständen Fallstricke enthält, die sich auch auf die Entwicklung von Therapieschulen, die sich auf ihn berufen, durchschlagen müssen.

Oder, anders ausgedrückt: was wir, was diese Therapieschulen heute brauchen, ist ein von allem Idealismus und jeglicher Kulturromantik gereinigter Humanismusbegriff, sonst beginnt dieser Begriff selber, wie das Heidegger 1946 in seiner berühmten Antwort auf Sartre formuliert hat, die Menschenwesensfrage zu verstellen: Die Menschenwesensfrage komme nicht eher auf die richtige Bahn, als bis man Abstand nehme von der ältesten, hartnäckigsten und verderblichsten Übung der europäischen Metaphysik: den Menschen als animal rationale zu definieren. In dieser Deutung des Menschenwesens bleibt der Mensch verstanden von einer durch geistige Zusätze erweiterten Animalitas her (zitiert nach Safranski).

Die Denkaufgabe, an der man sich im Moment also versuchen muss, wenn man die Problemlage in ihrer, wie mir scheint, avanciertesten Form formulieren möchte, lautet: wie lässt sich diese Prämisse von der humanismusverzierten Animalität aufgeben und wie lässt sich der Mensch stattdessen aus seiner Hominität begreifen. Dazu müssen wir uns, anstatt das Humanismus-Ideal weiter für politisches Kleingeld auszubeuten, vordringlich von der psychologischen, soziologischen und vor allem philosophischen Anthropologie informieren lassen und zwar darüber, wie es möglich war, dass für den Menschen diese eigenartige Ausnahmestellung gültig hat werden können, die ihn von einem sich an die Natur anpassenden Wesen zu einem In-der-Welt-Seienden gemacht hat. Es wäre eine Art phänomenologische Anthropologie, die uns – und zwar auch in biologischen Ausdrücken – erzählt, wie es zu der ‚Entsicherung’ des Menschen, zur Herausnahme des Menschen aus der Natur gekommen ist, wie die Naturgeschichte der menschlichen Gegennatürlichkeit, der menschlichen Treibhausentwicklung zu sich selbst, überhaupt möglich gewesen ist. Auf Grund dieser neuen Informiertheit müsste wohl Humanismus auch begrifflich zu Hominismus transzendieren. 

Um aus dieser doch etwas globalen Betrachtung, die ich hier und vielleicht auch niemals zu einer halbwegs befriedigenden Lösung bringen kann, wieder in unsere Runde und zu unserem Geburtstagskind zurückzukehren, wäre es der auf Stammbuchformat gebrachte Sinn meiner Überlegungen, in den nächsten 50 Jahren der Entwicklung des personzentrierten Ansatzes, sich vom begrifflichen Kleben am Humanismus zu lösen, aber das Anliegen der Menschenbildung zu bewahren, und das heißt vor allem jene Elemente zu setzen , die neben dem Humanismus auch im personzentrierten Ansatz enthalten sind: vor allem auf jenes der Transparenz und Echtheit als Gegengewicht zur Verführung, und auf jenes der Gruppe als Gegengewicht zum egoman-vernünftigen Subjekt. All das sehe ich bei Peter Schmid in guten Händen.

Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt: Suhrkamp. 1979
Heidegger:
Über den Humanismus. 1946
McLuhan: Die magischen Kanäle. Dresedes: Verlag der Kunst. 1995
Mühlmann: Die Natur der Kulturen. Wien: Springer. 1996
Schmid: Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden. Perspektiven zur Weiterentwicklung des Personzentrierten Ansatzes. Person, 1, 14-24, 1997
Safranski: Heidegger. Ein Meister aus Deutschland. Frankfurt: Fischer. 1998
Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? 1945
Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Frankfurt: Suhrkamp 1999
Sloterdijk: Die Verachtung der Massen. Frankfurt: Suhrkamp. 2000

Dr. Thomas Slunecko ist Psychologe und Psychotherapeut und lehrt am Institut für Psychologie der Universität Wien, er erhielt den Österreichischen Wissenschaftspreis für Psychotherapie 1996.

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