Michael Thonhauser

Jenseits von Gut und Böse
Eine keineswegs nur ernst gemeinte Abhandlung über die Nützlichkeit von Tugenden und die Kontextabhängigkeit von Eigenschaften
Wien, 20. Mai 2000

Ich habe Peter Schmid an der Schnittstelle von Therapie und Theater kennen gelernt, was schließlich zur Erarbeitung und Aufführung des Stücks „ Die Zofen“ von Jean Genet geführt hat und mir die Ehre verschafft, jetzt hier zu stehen.

Von ein paar Aspekten, die einem an dieser Schnittstelle in verschiedenen Zusammenhängen begegnen können, erlauben Sie mir Ihnen im Folgenden zu erzählen.

Meine ersten Assoziationen zum Titel dieser Veranstaltung über die Kunst, ein ehrenwertes Leben zu führen, waren Gedanken an die „ehrenwerte Gesellschaft“ Süditaliens. Von dort war es nicht weit zur konfuzianischen Tugendlehre für Räuberhauptmänner – „all die Tugenden, ohne die niemand jemals ein großer Räuberhauptmann geworden ist“. Das führte mich weiter zu Karl Moor in Friedrich Schillers „Die Räuber“.

Anhand dieser Rolle und diesem Stück möchte ich Sie und euch einladen, mit mir eine kleine Reise zu unternehmen – unter dem Titel: "Jenseits von gut und böse. Eine keineswegs nur ernst gemeinte Abhandlung über die Nützlichkeit von Tugenden und die Kontextabhängigkeit von Eigenschaften."

1. Zu Beginn des Faust sagt der Theaterdirektor: So schreitet in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus und wandelt mit bedächt'ger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle Diesen Weg zur Hölle unternimmt Karl Moor in Schillers "Räubern" zielstrebig, gleichsam einem unsichtbaren Leitfaden folgend, der ihn verschiedenen Tugenden eines aus seiner Sicht jeweils ehrenwerten Lebens nacheifern lässt – und konsequent in seine Vernichtung führt –, hin- und hergerissen zwischen der erlebten Enge und der ersehnten Weite, zwischen dem bedächtigen Zaudern und dem wildentschlossenen, raschen Handeln.

Ein paar dieser Tugenden, die Karl Moor für seine Kumpanen zu einem guten Räuberhauptmann machen, seien hier beispielhaft genannt. Und erlauben Sie mir auch, diese jeweils schon mit einer dem Inhalt des Stückes entnommen Umdeutung zu versehen, die schon deutlich macht, wie sich eine nützlich scheinende Tugend aufgrund des Kontextes zu einer schädlichen wandeln kann:

Wem nützen diese Tugenden in diesem Fall? Zunächst einmal dem Autor, Friedrich Schiller, der daraus den Stoff für ein Drama bezieht, dann dem Bruder, Franz Moor, der deren Befolgung durch die anderen für seine Zwecke benutzt, schließlich den Räubern, die Karl Moor damit in sein Verderben zwingen, zuallerletzt dem elffachen Vater, der das Kopfgeld für Karl Moor kassiert; nur die Person, Karl Moor selbst, führen sie letztlich in die Vernichtung.

Nun wer mag in solchen Situationen entscheiden, was richtig und was falsch ist, und selbst wenn eine solche Entscheidung getroffen worden wäre, was wäre damit gewonnen? Könnte es vielleicht richtiger sein, das Falsche zu tun und damit aus einem alten Muster auszubrechen, und falscher, das Richtige zu tun und damit dieses alte Muster wieder einmal zu wiederholen?

2. Nun, was hättet ihr / was hätten Sie an der Stelle Karl Moors getan?

Zwei Schlüsselstellen aus dem Drama möchte ich beispielhaft beschreiben:

1. Akt, 2 .Szene – Karl Moor hat seinem Vater einen Brief geschrieben, in dem er ihn aufrichtig um Verzeihung für seine Verfehlungen in seinem Studentenleben und um gnädige Aufnahme im Elternhaus bittet. Er erhält im Beisein seiner Kumpanen einen Antwortbrief von seinem Bruder Franz Moor, in dem ihm dieser mitteilt, dass der Vater über die Verfehlungen so entrüstet sei, dass er ihn völlig verstößt und in den Kerker werfen ließe, falls er zurückkehrt. Karl Moor gerät darüber so außer sich, dass er seine ganze Familie vernichten will, der bürgerlichen Welt Rache schwört und sich von seinen Kameraden zum Räuberhauptmann ernennen lässt.

5.Akt, die Schlussszene – Karl Moor verlässt seine gerade wiedergewonnene Geliebte, Amalia, um der Treue zu „seinen“ Räubern willen und tötet sie, als sie lieber sterben denn von ihm wieder verlassen werden will. Anschließend sagt er sich jedoch in einer plötzlichen Kehrtwendung von seinem Räuberleben los und beschließt, sich von einem elffachen Vater der Justiz ausliefern zu lassen, damit dieser arme Mann das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld erhält.

Ich möchte Sie und Euch an dieser Stelle mit „Forumtheater“, einer Methode des Theaters der Unterdrückten von Augusto Boal vertraut machen. Darin wird eine gesellschaftlich relevante Konfliktsituation vor Publikum dargestellt, die für eine Person, das Opfer der Szene, den Held/die Heldin der Geschichte provokant schlecht ausgeht. Anschließend wird die Szene von Beginn an wiederholt und die Zuschauerinnen/Zuschauer sind eingeladen „Stop!“ zu rufen und anstelle des Opfers in die Szene einzusteigen und alles, was ihnen einfällt auszuprobieren, um die Situation zu verändern, die übrigen Schauspielerinnen/Schauspieler reagieren in ihren Rollen improvisierend auf die jeweils neuen Lösungsideen.

Diese Methode eröffnet in der Theaterpädagogik neue Möglichkeiten, Menschen auf originelle Weise Zugänge auch zu klassischen Theatertexten zu bieten.

So könnte beispielsweise eine Deutschstunde in einer 6.Klasse Gymnasium, in der gerade Schillers "Räuber" behandelt werden sollen, auch folgendermaßen aussehen:

Die Lehrperson hat eine Szene ausgewählt, die sie mit verteilten Rollen lesen lässt, anschließend übertragen die Schülerinnen/Schüler die Situation des Textes auf ihr Leben und schreiben den Text zu einem möglichen Geschehen ihres Lebens um. Dann nehmen sie nochmals den originalen Text – nehmen wir einmal an, die Szene, als Karl den Brief seines Bruders erhält – bewegen sich damit nach Belieben im Raum und beginnen, die Szene zu spielen. Sie stoppen an dem Punkt, als Karl den Brief zu Ende gelesen hat. Die Szene wird wiederholt, diesmal kann jedoch unterbrochen und die Rolle des Karl ersetzt werden, wobei die einsteigende Person frei ist, alles zu tun, was sie in dieser Situation tun oder ausprobieren möchte, die übrigen Rollen reagieren aus ihrem Charakter heraus auf die neuen Verhaltensweisen des Karl. So schreibt einer einfach einen neuen Brief, ein anderer bricht auf der Stelle nach Hause auf, um zu überprüfen, ob der Inhalt des Briefes tatsächlich stimmt, wieder ein anderer beschließt, dem Vater zu beweisen, dass er es auch alleine schafft und beginnt, ernsthaft zu studieren.

Die zweite Szene wird bis zu dem Punkt gelesen, wo sich Karl für die Räuber und gegen seine Geliebte, Amalia, entscheidet. Hier können alle Rollen ersetzt werden, je nachdem, in welcher Situation sich jemand benachteiligt fühlt, und es entstehen vor allem in der Rolle von Amalia viele Ideen: Karl einfach zu verlassen und eigene Wege zu gehen, mit ihm ein Räuberleben zu führen, sich einem anderen Räuber zuzuwenden, was Karl eifersüchtig werden lässt, und Vieles mehr.

So entstehen vielfältige Bilder von Handlungsmöglichkeiten und unterschiedlichsten Eigenschaften, die den Rollen je nach Situation zukommen. So erlebt beispielsweise Amalia Karl einmal als zärtlich, sensibel und liebevoll, dann wieder als egoistisch, grausam und mörderisch. Die Form der Person Karl Moors wird sichtbar.

Zuletzt wird analysiert, was nötig gewesen sein musste, damit Karl Moor so handeln konnte, wie es von Friedrich Schiller beschrieben wurde, und was ihn bewegte, der Rolle gerade diese Struktur zu geben.

3. Theateraufstellungen: Diese Unterscheidung zwischen der Struktur einer Rolle, wie sie sich in einem Moment einer Szene oder als Charakter im Stück zeigt, und der Form der Rolle, als die Fülle der Möglichkeiten, wie sich die Rolle auch verhalten kann, habe ich in der Ausbildung in Systemischer Aufstellungsarbeit (bei M. Varga v. Kibed und I. Sparrer) kennen gelernt.

Gegen Ende des Stückes lässt Schiller Karl Moor folgenden Satz sprechen: Freilich steht's nun in meiner Macht nicht mehr, die Vergangenheit einzuholen – schon bleibt verdorben, was verdorben ist – was ich gestürzt habe, steht ewig nicht mehr auf. – Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigten Gesetze versöhnen, und die misshandelte Ordnung wiederum heilen kann. Sie bedarf eines Opfers – ... dieses Opfer bin ich selbst.

Diese Worte könnten – in moderner Sprache – direkt ein Geschehen einer Systemischen Familien- bzw. Strukturaufstellung beschreiben:

Was hätte geschehen könne, wenn Karl Moor eine Familienaufstellung gemacht hätte?

Lassen Sie mich kurz eine Systemische Strukturaufstellung beschreiben und anschließend erläutern, was das Spezifische einer Theateraufstellung ist:

Ausgehend von Aufstellungsarbeit in der Gruppe braucht es zunächst einmal eine Klientin/einen Klienten, die/der ein Anliegen hat (ein Problem einer Lösung zuzuführen). Die Leiterin/der Leiter wählt eine Aufstellungsart je nach gefragter Lösungsrichtung und die Klientin/der Klient sucht sich eine Repräsentantin/einen Repräsentanten für den eigenen Fokus und Repräsentantinnen/Repräsentanten für die übrigen für dieses Anliegen relevanten Systemmitglieder. Dann führt sie/er die Ausgewählten intuitiv auf den jeweils im Moment stimmigen Platz. So ergibt sich das "Ausgangsbild" der Aufstellung. Die Klientin/der Klient setzt sich und die Repräsentantinnen/Repräsentanten werden befragt, welche vor allem körperlichen Wahrnehmungen sie an ihrem Platz spüren und wie sie die anderen wahrnehmen. Nun werden mittels Umstellungs–, Ritual- und Prozessarbeit durch die Leiterin/den Leiter weitere Schritte vollzogen, bis schließlich ein "Lösungsbild" da ist, in dem alle relevanten Systemteile und insbesondere der Fokus in Bezug auf das Anliegen einen sich für sie gut anfühlenden Platz haben. Zuletzt tritt die Klientin/der Klient in die "Fußstapfen" des "Fokus", nimmt das Lösungsbild zu sich und vertraut, dass es als neues inneres Bild eine gute Wirkung entfalten wird. Die übrigen Repräsentantinnen/Repräsentanten werden aus ihren Rollen entlassen und gebeten, sich gut zu entrollen.

In einer Theateraufstellung liegt das Interesse selten daran, möglichst schnell zu einer guten Lösung eines Konflikts zu kommen. Im Gegenteil, oft geht es gerade darum, das Problem noch zu verschärfen, die Hindernisse bei der Erreichung eines Zieles zu vergrößern und die Struktur eines  Konflikts komplexer und komplizierter zu gestalten. Eine Theateraufstellung kann dazu dienen, eine Szene zu entwickeln, Handlungsstränge und –motive herauszuarbeiten und die Relationen zu klären, oder weitere oft viel verdeckter vorhandene Informationen über die einzelnen Rollen zu bekommen und eigene Erlebniserfahrung damit zu sammeln oder tatsächlich Lösungsideen für den Konflikt zu entwickeln, aus denen wieder Informationen über die Rollen und die Szene entstehen. Je nachdem, ob Details einer Szene oder die Szenenfolge oder das Ende der Geschichte herausgearbeitet werden soll, folgen die Repräsentantinnen/Repräsentanten ihrer inneren Bewegung zu einem Viertel oder zu einem Drittel oder zur Hälfte.

Das Wissen um die vielfältigen Möglichkeiten und Mechanismen, wie es in einem System zu Blockaden, Belastungen, Konflikten, usw. kommen kann, ist hier eine reiche Quelle. So verändert sich das Konfliktpotential einer Szene schlagartig, wenn etwa ein relevantes Mitglied herausgenommen oder abgewandt wird.

In einer Aufstellung der Rollen des Stückes, wo nur der Leiter der Aufstellung und der Regisseur wussten, welche Rollen die aufgestellten Personen repräsentierten, zeigte sich, dass die Repräsentantinnen/Repräsentanten dieselben Empfindungen äußerten, wie die Rollen im Stück: Karl und Franz hatten starke Konkurrenzgefühle, der Vater fühlte sich eher zu Karl hingezogen, was Franz wiederum ärgerte – wohlgemerkt: die Repräsentantinnen/Repräsentanten wussten nicht, in welchem Stück sie für welche Rolle standen – Amalia stand erstaunlich nahe beim Vater und etwas in Distanz zu Karl, zu dem es jedoch eine starke Anziehung gab, doch das Bemerkenswerteste war, dass die meisten auf einen ähnlichen Punkt hin ausgerichtet waren und meinten, dass ihnen jemand – von den Äußerungen her eher eine Frau – fehlen würde. So ließ der Leiter der Aufstellung eine Frau hinzustellen, was die gesamte Situation grundlegend veränderte. Eine große Trauer machte sich breit und schon bald wurde deutlich, dass die hinzugekommene Person die anscheinend früh unter tragischen Umständen verstorbene Mutter von Karl und Franz war. Und es zeigte sich, dass mit der Hereinnahme der Mutter eine auch körperlich spürbare Entspannung entstand, sodass sich mit der nun möglichen Trauerarbeit eine für alle Beteiligten Erleichterung verschaffende Lösung abzeichnete. Mit dem Wissen, dass das Stück so einen ganz anderen Verlauf nehmen würde, wurde die Mutter wieder herausgenommen und schlagartig stellten sich die ursprünglichen Empfindungen und zum Teil auch neue Beschwerden ein.

Für die Teilnehmerinnen/Teilnehmer war besonders beeindruckend, dass sich solch intensive Empfindungen auch in einer erfundenen Situation einstellten, und wie die Empfindungen zueinander und die Meinung, wie jemand sei, sich mit den Umstellungen im Beziehungsgefüge veränderten, sodass letztlich nicht einmal mehr gesagt werden konnte, ob Karl oder Franz mehr Sympathien zuteil wurden.

Parts Party – ein kleines Spiel: Ich lade Sie ein, an sechs Personen des öffentlichen Lebens zu denken, Politikerinnen/Politiker, Filmrollen, Figuren aus der Mythologie und der Geschichte etc., wobei Sie drei für Sie besonders anziehende und drei besonders abstoßende Personen wählen sollen; schreiben Sie diesen Personen eine Eigenschaft zu, die diese für Sie im Speziellen charakterisiert, anschließend suchen Sie für die anziehenden Eigenschaften je drei Situationen, in denen diese schädlich sein können, und für die abstoßenden Eigenschaften je drei, in denen diese nützlich sein können, zuletzt versuchen Sie sich auszumalen, was geschehen könnte, wenn sich diese Personen auf einer Party treffen würden und miteinander in Kontakt kommen möchten.

4. Conclusio: Was kann es heißen, wenn Tugenden und allgemeiner Eigenschaften etwas sind, was uns in bestimmten Zusammenhängen zukommt und nicht etwas, was wir haben oder was wir sind?

Literatur

Boal, A. (1994): The rainbow of desire
Milz, H. / Varga v. Kibed, M. (Hg.) (im Druck): Beseelter Leib, verkörperter Geist

Schutzmann / Cohen-Cruz, J. (1995): Playing Boal. Theatre, therapy, activism
Sparrer, I. / Varga v. Kibed, M. (im Druck): Systemische Strukturaufstellungen. Grammatik und Praxis

Varga v. Kibed,  M. (1995): Ganz im Gegenteil ... Querdenken als Quelle der Veränderung
Weber, G. (Hg.) (1998): Praxis des Familien-Stellens. Beiträge zu Systemischen Lösungen nach Bert Hellinger

Michael Thonhauser ist Schauspieler und Theaterschaffender, er hält Workshops zum Bereich systemische Aufstellungen und Theater, arbeitet als systemischer Coach und Supervisor und ist Leiter der Gruppe Forumtheater im WUK.

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