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Artikel Psychotherapie |
Peter F. Schmid |
Dieser Aufsatz ist Wolfgang M. Pfeiffer zu seinem 80. Geburtstag in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet.*
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Literatur | References
Rezension | Review
Zusammenfassung
Die von Rogers 1957 als notwendig und hinreichend postulierten Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung bilden das Fundament eines anthropologischen und therapietheoretischen wie –praktischen Paradigmenwechsels in der Psychotherapie. Die Basis dafür stellt eine ethische Position dar, die den Menschen als Person, d. h. in der unüberholbaren Dialektik von Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit, versteht. Psychotherapie bedeutet demnach das Ergreifen der Verantwortlichkeit aus dem Angesprochenwerden von einem prinzipiell Anderen und dem in der jeweiligen Gegenwart daraus erwachsenden kairotischen Anspruch, die Aktualisierung des vorhandenen Potentials durch personale Begegnung zu fördern.
Es nimmt nicht wunder, dass diese radikale Position, in der alle Orientierung an der Person des Klienten erfolgt und sich der Therapeut selbst als Person ins Spiel bringt, alsbald durch fundamentalistische wie eklektizistische Positionen verwässert und verharmlost wurde. Dogmatistische Festschreibungen und vermeintliche Kompatibilität und „Methodenintegration“ verfehlen den ethischen Imperativ und die anthropologischen Grundlagen ebenso wie eine reduktionistische Verlagerung des Fokus von der ganzen Person zum inneren Erleben, auf ein Therapieziel oder zur Methodik. Der folgende Aufsatz versucht herauszuarbeiten, was das Wesentliche und Unverzichtbare einer Person–zentrierten Position darstellt und inwieweit es mit einer Reihe von Ansätzen zusammenstimmt, die sich auf Rogers berufen.[1]
Stichwörter
Grundlagen, Ethik, Basisbedingungen/Grundhaltungen, Kairologie, Anthropologie, Begegnungsphilosophie, Personbegriff, Erkenntnistheorie, Gegenwärtigkeit, Facilitator, Kompatibilität, Konsistenz, Methoden, Focusing, Experienzielle Therapie, ganzheitlicher Ansatz, Zielorientierung.
Übersicht
Die
personzentrierten Basisbedingungen —
eindeutige Grund–Sätze und ein
vielfältiger Spiel–Raum
Die Grundlagen personzentrierten Handelns —
eine ethische Position
Der Mensch als Person —
vom Erkennen zum Anerkennen in
der Psychotherapie
•
Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit —
Personsein und Personwerden in uneinholbarer
Dialektik
Personale Begegnung —
von Diagnose und Abstinenz zur un–Mittel–baren
Gegenwärtigkeit
• Gegenwart und
Kontext — Präsenz als "way of being with" im
Kairos
Förderung von
Persönlichkeitsentwicklung durch Begegnung
—
von der
Krankheit zur leidenden Person, vom Experten zum
Facilitator
Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen
eines Person–zentrierten
Ansatzes —
zur Frage von Kompatibilität
und Konsistenz
• Konsistentes
Therapieangebot versus
Methodenergänzung, –integration und –kombination
• Personzentrierte Therapie verus
Focusing–(zentrierte) bzw. Experienzielle
Therapien
• Personale Präsenz versus Methoden,
Techniken, Handwerkszeug
• Ganzheitlicher Ansatz, differenzielle
Positionen und Klassifizierungen
Personorientierung versus Zielorientierung —
die ethische Entscheidung des
Therapeuten
Die personzentrierten Basisbedingungen — eindeutige Grund–Sätze und ein vielfältiger Spiel–Raum
Carl Rogers war sich offenbar in vollem Ausmaß dessen bewusst, was er mit seiner Hypothese von den „notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie“ (Rogers 1957a) behauptete.[2] Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man den vorsichtig geschriebenen und offenbar jedes Wort genau abwägenden Artikel liest.
Dass diese Bedingungen, vor allem die bekannten „Grundhaltungen“, notwendig sind, wird heute wohl kaum jemand mehr bezweifeln. Das Entscheidende und auch nach einem halben Jahrhundert nach wie vor Revolutionäre aber ist die Behauptung, sie seien hinreichend.[3] Darauf hatte Rogers von Anfang an besonderen Wert gelegt, und er hielt an dieser Theorie, die er selbst als „rigorous“[4] bezeichnete (ders. 1959a), sein ganzes Leben lang fest (vgl. Rogers/Heppner/Rogers M./Lee 1984).
Diese „Formel“ ist — historisch wie theoretisch–systematisch — die Basis für alles, was sich zu Recht personzentriert nennen darf. Im Kern ist in diesem Statement alles Wesentliche der personzentrierten Theorie, zumindest implizit, enthalten.
Und es ist auch mitausgesagt, was alles nicht zu dieser Theorie passt. Rogers (1957a, 178–181) betont in diesem provokanten Aufsatz denn auch ausdrücklich eine Reihe von Punkten, die sich auf der Basis der formulierten Hypothese als nicht notwendig für die Psychotherapie herausstellen: Er nennt als „signifikante Auslassungen“ etwa die Kliententypologisierung zur Bereitstellung verschiedener Bedingungen für verschiedene Klientengruppen oder die psychologische Diagnose als Vorbedingung für Psychotherapie. Ja, er geht bis zur ausdrücklichen Behauptung, solche Diagnosen dienten nur dem Schutz des Therapeuten oder der Therapeutin.[5] Er stellt weiters klar, Psychotherapie sei nicht artverschieden von alltäglichen hilfreichen Beziehungen und hält auch explizit fest, dass das Wesentliche am therapeutischen Knowhow und daher an der Ausbildung die Erfahrung des Therapeuten sei und nicht seine intellektuellen Qualitäten. Last but not least betont er, dass er damit nicht nur Bedingungen für die Klientenzentrierte Therapie formuliert habe, sondern für jedwede therapeutische Situation, in der konstruktive Persönlichkeitsveränderung geschieht, dass dies also als eine schulenübergreifende Metatheorie zu verstehen sei.
Viele Implikationen und Konsequenzen dieser Theorie arbeiteten Rogers und andere erst später detailliert heraus. Parallel mit der immer genaueren Explizierung der anthropologischen Grundlagen wurde auch die Praxis der Therapie weiter entwickelt (vgl. Farber/Brink/Raskin 1996).[6]
Das ist wohl kein Zufall. Denn es fällt auf, dass in Rogers‘ grundlegendem Statement so gut wie nichts über das praktische therapeutische Vorgehen ausgesagt ist. Rogers hatte damit keine Handlungsanweisungen formuliert. Man kann zwar selbstverständlich die prinzipielle Nichtdirektivität erkennen und allein daraus im Wesentlichen das zu Grunde liegende Menschenbild herauslesen, das seinerseits wieder bestimmtes Handeln ein– und anderes ausschließt, aber insgesamt ist dieser Satz an Prinzipien auf einem ziemlich abstrakten Niveau formuliert.[7] Das jeweilige konkrete Handeln ist davon erst abzuleiten und die zugehörige Handlungstheorie auf dieser Basis zu entwerfen. Beide müssen sich jedoch stets an den Grundlagen überprüfen und kritisieren lassen.
Die personzentrierten Grundannahmen sagen beispielweise nichts darüber aus, wie die Kommunikation zwischen Klient(en) und Therapeut(en) stattzufinden hat. Nirgends steht darin etwas von rein oder vorwiegend verbaler Kommunikation, von (verbaler) Gesprächstherapie oder auch nur von einer Bevorzugung verbaler Interaktionen gegenüber anderen, etwa der Arbeit mit dem Körper oder spielerischen und künstlerischen Ausdrucks– und Kommunikationsformen. Rogers (z. B. 1975j; 1970a) selbst meinte, eine Vielfalt von persönlichen Techniken sei mit den Grundhaltungen vereinbar.
Es ist also ein breiter Spielraum gegeben, personzentriert zu arbeiten und zu gestalten. Es gibt keineswegs nur die eine richtige Art, personzentriert zu handeln. Rogers hat die personzentrierte Haltung im Laufe seines Lebens nicht nur selbst verschieden praktiziert, sondern auch ausdrücklich andere ermuntert, ihre eigenen Wege in Theorie und Praxis zu finden (vgl. z. B. Rogers 1959a, 16). So spannt sich ein breiter Bogen von Virginia Axlines Nondirektiver Spieltherapie (1947) bis zu den therapeutischen und politischen Implikationen von Großgruppenarbeit (Rogers 1980a), von den frühen Fallbeispielen bis zu den späten Demonstration Interviews, von der Studentenberatung bis zur klinischen Arbeit mit sogenannten Psychotikern usw. während der Lebzeiten des Begründers und ebenso von Rogers und seinen Mitarbeitern zur vielfältigen heutigen Praxis.
Umgekehrt ist es aber auch nicht so, dass alles zu Recht als personzentriert bezeichnet werden kann (etwa immer dann, wenn es selbst jemand so nennt), unabhängig davon, ob es mit den personzentrierten Grundannahmen übereinstimmt oder nicht. An der Vereinbarkeit mit ihnen muss es sich messen lassen; ist es mit diesen nicht kompatibel, sollten sie fairerweise auch anders bezeichnet werden.[8]
Das zu Grunde liegende Menschenbild ist nicht beliebig und nicht beliebig kombinierbar. Es ist mit bestimmten erkenntnistheoretischen und entwicklungspsychologischen Positionen verbunden, mit Motivations–, Persönlichkeits– und Beziehungstheorien inklusive Theorien der leidenden Person und ihrer Therapie. Es stimmt mit bestimmten wissenschaftstheoretischen und forschungsmethodologischen Ansichten sowie mit politischen Grundeinstellungen zusammen und mit anderen nicht. Vor allem aber stellt es eine bestimmte ethische Position dar (Schmid 1998b; 1999a).
Die Grundlagen personzentrierten Handelns — eine ethische Position
Rogers hat seinen Grund–(An–)Satz aus der Erfahrung in Beziehungen erarbeitet; seine Theorie ist phänomenologisch gewonnen und erfahrungsnahe formuliert; sie bleibt auch bei späteren Verfeinerungen immer nahe am Erleben. Was Rogers in Therapien beobachtete und woraus er seine Hypothesen formulierte, sind keine indifferenten Daten, sondern aus der Betroffenheit gewonnene Erfahrungs–„Tatsachen“, die eine deutliche Wertsetzung implizieren.
Bereits die Voraus–Setzung, überhaupt Psychotherapie zu treiben und sie theoretisch zu bedenken, kommt aus der Entscheidung, sich vom Leiden eines anderen Menschen ansprechen zu lassen, es also als An–Spruch zu verstehen. Damit geht vom anderen als einem im Sinne der Begegnungsphilosophie (prinzipiell) Anderen etwas aus, das betrifft und betroffen macht und vor die Entscheidung stellt, Ant–Wort zu geben. Psychotherapie ist damit vorweg als Antwort auf das Leid anderer Menschen bestimmt, dem der Psychotherapeut nicht gleichgültig gegenübertritt, sondern von dem er sich herausgefordert und in Anspruch genommen fühlt. Anders formuliert: Psychotherapie kommt gerade bei einem solchen phänomenologischen Zugang von Anfang an als ein ethisches Phänomen in den Blick.
Sieht man sich das Kernstück personzentrierter Theorie, eben Rogers‘ Statement 1957, genauer an, so ist damit bereits eine solche ethische Grundlegung formuliert: Psychotherapie ist Antwort auf Inkongruenz, auf einen verletzlichen bzw. ängstlichen Menschen. Mehr noch: Wenn diese sechs Bedingungen notwendig und hinreichend für eine konstruktive Entwicklung der Person durch Psychotherapie sind, so stellt es eine Verpflichtung für den Therapeuten dar, sie zu beachten (Kontakt, Klienteninkongruenz, Kommunikation der Therapeuteneinstellungen) bzw. „anzubieten“ (Kongruenz, bedingungsfreie Zuwendung, Empathie). Der Therapeut wird hier also als ein auf die Not Antwortender und daher Ver–Antwort–licher in einer Kommunikation begriffen. Mit einem Wort: Psychotherapie wird ethisch fundiert.
Psychotherapie ist in dieser Perspektive das Ergreifen der Verantwortlichkeit gegenüber dem Klienten als einem Anderen, ist Handeln aus der Begegnung, engagierter und solidarischer Dienst aus einer solchen sozialethischen Grundhaltung.[10]
Es ist kein Zweifel, dass die Paradigmenwechsel bei Levinas und Rogers parallel zu sehen sind: dem prinzipiellen Vorrang des Anderen entspricht die prinzipielle Klientenzentrierung der Psychotherapie.
Sie erfordert, Psychotherapie zu allererst unter einem ethischen Blickwinkel zu sehen.
In Rogers‘ 1957 publiziertem Aufsatz sind zwei wesentliche Dimensionen eines Bildes vom Menschen impliziert: Die erste Bedingung bereits spricht von einer zwischenmenschlichen Beziehung[11] und die weiteren fünf definieren die Charakteristika dieser Beziehung, die allesamt einschließen, dass dem Menschen die Möglichkeit und Tendenz gegeben ist, sich auf der Grundlage seiner eigenen Ressourcen dann konstruktiv weiterzuentwickeln, wenn eine bestimmte Form von Beziehung gegeben ist. Anders ausgedrückt: In den sechs Bedingungen wird klar vorausgesetzt, dass der Mensch sich aus Eigenem konstruktiv entwickeln kann, wenn er eine förderliche Beziehung vorfindet. Ohne die Annahme einer Aktualisierungstendenz, die ebenso auf den individuellen Ressourcen wie auf den Beziehungsfähigkeiten der Person aufruht, würden die Bedingungen zwei bis sechs keinen Sinn machen.
Damit sind genau jene beiden dialektischen Dimensionen am Menschsein genannt, für die in der Theologie– und Philosophiegeschichte der Begriff „Person“ geprägt wurde: Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit, Autonomie und Begegnung, Souveränität und Solidarität. Was immer sonst noch an Motiven für die Bezeichnung als „personzentriert“ ausschlaggebend war — es ist eindeutig, dass damit auch und bewusst die mit dem Personbegriff verbundene Anthropologie als zentral für den „Person–zentrierten“ Ansatz benannt wurde.[12]
Man muss die von Rogers konsequenterweise als einziges Axiom bezeichnete Grundannahme von der Aktualisierungstendenz in der dialektischen Spannung dieser beiden Dimensionen sehen, will man ihr voll gerecht werden.[13] Historisch betrachtet, wurde eindeutig zunächst der Schwerpunkt der Theoriebildung auf den individuellen Aspekt gelegt — was sich aus geschichtlichen Gründen, vor allem auch in Abwehr des psychiatrischen, psychoanalytischen und behavioristischen Modells, als notwendig erwies und nicht selten zur Kritik als einseitig individualistisch (und „typisch amerikanisch“) geführt hat. Doch die Beziehungsdimension war von allem Anfang an formuliert (siehe den ersten Grund–Satz im Statement 1957), selbstverständlich vorausgesetzt und im Handeln deutlich, wenngleich an ihrer theoretischen Konzeptualisierung als Begegnung und ihrer praktischen Ausdifferenzierung in vielfältigen Formen des Handelns erst später deutlicher gearbeitet wurde.
Rogers (1980b, 187) stellt in seiner Kurzdarstellung der Personzentrierten Psychotherapie diese beiden Aspekte auch ausdrücklich an den Anfang seiner (explizit als Definition ausgewiesenen) Beschreibung: „Die Klientenzentrierte Therapie entwickelt sich kontinuierlich als eine Form der Beziehung mit Personen [way of being with persons], die heilsame Veränderung und Wachstum fördert. Ihre zentrale Hypothese ist, dass [1.] die Person in sich ausgedehnte Ressourcen dafür hat, sich selbst zu verstehen und ihre Lebens– und Verhaltensweisen konstruktiv zu ändern, und dass [2.] diese Ressourcen am besten in einer Beziehung mit bestimmten definierten Eigenschaften freigesetzt und verwirklicht werden können. [...]“ (Nummerierg. u. Hervorh. pfs).
Kurz gefasst: Die Personzentrierte Psychotherapie stellt die Praxis eines Menschenbildes dar, das den Menschen als Person versteht und ihm daher, ihn anerkennend, begegnet statt ihn, ihn zu erkennen suchend, zu objektivieren.
Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit — Personsein und Personwerden in uneinholbarer Dialektik
Mit der Bezeichnung des Menschen als Person wird also an die in der abendländischen Geistesgeschichte aus der Theologie und Philosophie in die Psychologie und Psychotherapie eingegangene Diskussion um das Menschenbild angeschlossen, in der über nahezu zwei Jahrtausende zwei Traditionsstränge miteinander in Konkurrenz lagen: eine stärker individuelle (oder substanziale), die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung des Menschen herausstreichende Position und eine stärker relationale (oder: transzendente) Ansicht, ein aus der Beziehung herkommendes und seine Beziehungsbedingtheit betonendes Verständnis des Menschen.
Es kann nachgewiesen werden, dass in der personzentrierten Anthropologie beide Dimensionen nicht nur enthalten, sondern konsequent weiter entwickelt sind (Schmid 1991). Nicht zufällig zitiert Rogers ebenso gern den die Einzigartigkeit und Unaustauschbarkeit betonenden Søren Kierkegaard, der hervorhebt, dass sich der Mensch in seiner Wahlmöglichkeit und Freiheit selbst erfährt und für den es darum geht, "das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist" (Kierkegaard 1924, 17; vgl. z. B. Rogers 1961a, 167), wie er den die dialogische Existenz der Person explizierenden Martin Buber immer wieder als Gewährsmann anführt und die personzentrierte Beziehung an der Ich–Du–Beziehung Bubers misst. Für Buber gilt: "Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung." (Buber 1923, 18) Die fundamentale Tatsache der Existenz ist, Buber zufolge, "der Mensch mit dem Menschen. [...] Person erscheint, indem sie zu anderen in Beziehung tritt." (Ders. 1948, 164).
Einerseits ist so mit Person ihre Selbstständigkeit und Einzigartigkeit, ihre Freiheit und Würde, ihre Einheit, ihre Souveränität und Selbstbestimmung, ihre Verantwortlichkeit, die von den Vereinten Nationen deklarierten Menschenrechte usw. verbunden. Das ist auch gemeint, wenn der Mensch von Anfang an und unabhängig von seiner physischen oder psychischen Gesundheit und Entwicklung als Person bezeichnet wird. Personsein heißt, so verstanden, Selbstständigsein: Aus–sich–Sein und Für–sich–Sein.
Andererseits wird Person von der Beziehung her verstanden, aus der Partnerschaft, aus dem Dialog, aus der Verbindung zur Welt, von ihrer Angewiesenheit auf andere her. Demnach ist sie im Ganzen der Gemeinschaft und damit in ihrer Verantwortung für andere zu sehen. Personsein heißt hier Aus– und In–Beziehung–Sein: Von–anderen–her– und Für–Andere–Sein, Auf–Andere–angewiesen–Sein.
Beide Gesichtspunkte sind inkommensurabel, setzt man sie absolut. Beide sind aber unabdingbar: Zur Person gehören in unüberwindbarer dialektischer Verwiesenheit Selbstständigkeit wie Selbstbestimmung und Beziehungsoffenheit wie Beziehungsangewiesenheit, Erfahrung und Begegnung, Souveränität und Engagement, Autonomie und Solidarität, Ich und Wir. Der Mensch ist von Anfang an Person als eigenständiges, unverwechselbares Individuum (er ist der, der er ist) und er ist von Anfang an auf die personale Gemeinschaft mit Anderen bezogen, ja auf solche Beziehung angewiesen (er ist aus Begegnungserfahrungen der geworden, der er ist, und entwickelt sich durch solche Erfahrungen weiter: Die dialogische Frage »Wer bist du?« schließt die Frage nach dem »Woher« und nach dem »Wohin« ein). Erst durch die Beziehung zu anderen Personen entfaltet und verwirklicht er sein Person–Sein: Er wird Persönlichkeit. Ein solcher Personbegriff steht ebenso im Kontrast zu einem individualistisch–privatistischen wie zu einem kollektivistischen Menschenbild.[14]
Die Spannung zwischen beiden Personbegriffen, die es auszuhalten gilt, ist das Charakteristische am Verständnis der Person im Personzentrierten Ansatz. Diese Spannung findet sich in der Therapie wieder, wenn es darum geht, dass der Klient durch die Beziehung er selbst wird, dabei begreifend, was er immer schon selbst war und erst noch werden kann. Und wenn es darum geht, dass der Therapeut authentisch er selbst und doch einfühlend und wertschätzend ganz auf den anderen bezogen ist. Der Therapeut ist Alter Ego und Beziehungspartner. Die Spannung ist in der therapeutischen Beziehung gegeben, wenn das personale Beziehungsangebot des einen in eine tatsächliche solche Beziehung mündet, im anderen auslöst und zum Vorschein bringt, was schon angelegt war, aber der Beziehung bedurfte, es zu wecken und zu (neuer) Entwicklung anzuregen. In der Austragung dieser Gegensätze, nicht im Ausgleich, im ständigen Gegenüber der Begegnung geschieht die Aktualisierung der Möglichkeiten der Person und wächst die Persönlichkeit.
Personzentrierte Psychotherapie versteht sich demnach als wissenschaftliche und praktische Frage nach der Person.[15] Denn gerade im Personzentrierten Ansatz haben die beiden Personbegriffe in ihrer dialektischen Spannung zur Formulierung des erwähnten personzentrierten Axioms geführt, in dem die Dialektik von Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit festgehalten ist: Dass der Mensch die Fähigkeit und Tendenz zur Entwicklung in sich selbst trägt, er aber der Beziehung bedarf, damit diese Entwicklung tatsächlich stattfinden kann. Jede Einseitigkeit greift zu kurz und wird der menschlichen Existenz nicht gerecht. Daher müssen sich Theorie und Praxis der Therapie gerade auch hinsichtlich der Frage messen lassen, ob individuelle und relationale Dimension des Personseins und –werdens gleichermaßen thematisiert sind und praktiziert werden und sie sich daher gegebenenfalls zu Recht personzentriert nennt.
Eine Beziehung, die dem Menschen als Person gerecht wird, kann zweifellos nur eine sein, die einerseits den Anderen ganz so nimmt, wie er ist, und ihn in diesem Sosein respektiert, und bei der man sich andererseits auch selbst als Person ins Spiel bringt (statt sich in neutraler Distanz zu halten).[17] Dafür steht in der Begegnungsphilosophie der Begriff „Begegnung“. Sie hat die für eine "personale Begegnung" konstitutiven Elemente herausgearbeitet, von denen im Folgenden einige genannt werden. Sie lassen sich unschwer in der personzentrierten Arbeit wiederfinden.
Be–geg(e)n–ung (englisch "en–counter") bedeutet wörtlich, etwas oder jemandem gegenüber stehen. Es ist eine Beziehung, die den Anderen als einen prinzipiell Anderen respektiert und sich von diesem Anders– und Unerwartetsein überraschen und berühren lässt. Begegnung ist ohne Absicht, ein staunendes Zusammentreffen mit der Wirklichkeit des Anderen, ein "Betroffenwerden vom Wesen des Gegenüber–Stehenden" (Guardini 1955, 226; Hervorh. pfs). Dabei wird der Andere weder vereinnahmt noch von außen beurteilt. Begegnung ist also jene Form der Beziehung, die den größtmöglichen Respekt vor dem Anderen ebenso verwirklicht wie eine ganz besondere Nähe. Sie ist die dem Personsein im Sinne dieses Respekts vor der Autonomie (der dem substanzialen Personbegriff entspricht) angemessene Form der Beziehung: In der Begegnung tritt Person der Person gegenüber. Dies meint freilich weder allein einen einmaligen, außergewöhnlichen Moment noch einen dauernden, unveränderten Zustand, sondern einen Prozess. Er führt vom Besprechen zum Gespräch, letztlich, wie bereits erwähnt, zur wechselseitigen An–Erkennung als Person (und nicht zur Erkenntnis über den Anderen).
Begegnung hat dabei notwendigerweise mit Widerstand, mit Konfrontation zu tun. Der Andere stellt das Selbst infrage. Er ist kein a priori Vertrauter oder gar Einordenbarer. Wer jemandes Anderen in personaler Weise innewird, sich von diesem Anderen ansprechen und betreffen lässt, erfährt, dass damit jede Form von In–Besitz–Nehmen ausgeschlossen ist. Wer sich des Anderen bemächtigen wollte (und sei es nur in Form von Interpretationen oder Deutungen über den Anderen oder durch Vorgaben für ihn), der zerstört die personale Qualität der Beziehung und führt sie in eine Beziehungsform über, in der einer den anderen zum Objekt macht. Wenn die Person "nicht dem Widerstand anderer Selbste begegnete, würde jedes Selbst versuchen, sich absolut zu setzen. [...] Das Individuum entdeckt sich durch diesen Widerstand. Will es die andere Person nicht zerstören, muss es in Gemeinschaft mit ihr treten. Im Widerstand der anderen Person wird die Person geboren." (Tillich 1956, 208
Die Bewegung geht dabei, auch entwicklungspsychologisch gesehen, vom Du zum Ich, nicht umgekehrt, wie Levinas (1987) betont. Begegnung Erfahren bedeutet von allem Anfang an, in der Optik des Anderen zu stehen.
Begegnung (und damit begegnungsorientierte Psychotherapie) kann dementsprechend kein planungsgebundenes, auf ein Ziel fixiertes Tun sein, sondern ist, so gesehen, Kunst bzw. Spiel, ein Spiel ohne Regeln, authentisch, frei, spielerisch (nicht verspielt); es ist absichtsloses Handeln. Therapie ist das Zusammen–Spiel aufeinander bezogener Personen in einem Stück, das im Moment des Spiels jeweils neu geschrieben wird, nicht ein Wiederholen und Wiederabspielen eingefahrener Rollen oder das Verfolgen eines vorher festgelegten Ziels. Begegnung bedeutet, auf den Punkt gebracht, sich selbst als Person ins Spiel zu bringen.
Wer begegnet, ist nicht nur Alter Ego einer Selbstreflexion, sondern auch Partner in einem Dialog. Der echte Dialog ist ein Austausch, der auf Gegenseitigkeit zielt. Er geht von der existenziellen Mitte der Person aus, ist "verstehende Konfrontation". In ihm geht es nicht um Informationsübermittlung, sondern um Teilnahme am Sein des Anderen. In der dialogischen Spannung von Ganz–auf–den–Anderen–Bezogensein (Solidarität) und Ganz–selbst–Sein (Autonomie) entsteht Selbstbewusstsein und geschieht Selbstverwirklichung — dialektisch als Verwirklichung der Möglichkeiten in der jeweiligen Beziehung.[18]
Gegenwart und Kontext — Präsenz als "way of being with" im Kairos
Begegnung geschieht, wo einer dem Anderen Gegenwart wird (Buber 1923) und sich selbst als Person ganz auf ihn einlässt. Die "von Augenblick zu Augenblick stattfindende Begegnung" (Rogers 1980b, 194) ereignet sich in der unmittelbaren Gegenwart.
Ihr entspricht die Gegenwärtigkeit (Präsenz) als das unmittelbare Erleben mit dem Andern im jeweiligen Augenblick. Gegenwärtigkeit wird dabei – im Unterschied zu einem oberflächlichen oder gar ideologischen Gebrauch des Schlagwortes vom Hier–und–Jetzt (Gegenwärtigkeit schließt das Gewordensein ebenso ein wie den Entwurf von Zukunft, das Werdenkönnen) — in einem existenziellen, begegnungsphilosophischen Sinn verstanden: als authentische Haltung, in der jeweiligen Gegenwart des Anderen zu sein, präsent zu sein.
Das heißt, für sich und für die Anderen im jeweils gegebenen Moment bedingungslos offen zu sein: Es ist ebenso staunende Offenheit für das eigene Erleben erforderlich, ein absichtsloses Gegenwärtigsein, wie die Vergegenwärtigung der anderen Person erforderlich ist, d. h. sich einfühlend der Gegenwart des Anderen auszusetzen.
Dies hat eine körperliche Dimension; konstitutiv für personale Begegnung ist auch der leibliche Kontakt. Begegnung setzt physische Präsenz voraus, ist Berührung, Spüren und Gespürtwerden, "leibhaftes Zusammenspiel" (Buber 1962/63, 212). Sie ist ein intimes, sinnliches und sinnenhaftes Geschehen. ("Psycho"–Therapie ist ja immer ganzheitliche Therapie, Therapie der Person in ihrer Ganzheit, mit Leib und Seele und Geist.)
Solche Gegenwärtigkeit hat, wenn man es so bezeichnen will, auch eine spirituelle Dimension. Damit sind nicht irgendwelche esoterischen Vorstellungen gemeint, sondern die Offenheit für Fragen über das unmittelbar Erfahrbare und Verifizierbare hinaus, die Sinnfragen, die transzendenten Dimensionen des Menschseins und die Glaubensvorstellungen (Thorne 1991; 1998).
Jeweils ganz in der Gegenwart zu sein, bedeutet die Herausforderung, den fruchtbaren Augenblick zu ergreifen (welcher "Kairos" genannt wird — nach dem griechischen Gott für die günstige Gelegenheit, der als Jüngling mit einem Schopf vorne, kahl geschoren hinten, dargestellt wurde, und den es, wenn er vorbeieilte, galt, "beim Schopf zu packen"). Denn Begegnung geschieht immer jetzt und sie ereignet sich direkt zwischen den Personen: in Un–Mittel–barkeit, jenseits aller Mittel, Methoden und Techniken. Diese stehen trennend zwischen den Personen, wenn sie von außen in die Beziehung eingebracht werden. "Zwischen Ich und Du steht kein Zweck. Alles Mittel ist Hindernis. Nur, wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung", formuliert Buber (1923, 78f), präzise auch den Prozess beschreibend.
Das einzige "Mittel" oder "Instrument" ist die Person des Therapeuten selbst. Das setzt zuallererst den Verzicht auf alle planbaren Techniken und Strategien voraus, auf alle Mittel, "Spiele" oder "Übungen", die als Schutz dienen um abzuwehren, was einem wider–fährt. Gegenwärtigkeit hingegen bedeutet, sich einzulassen auf die Unmittelbarkeit der Begegnungserfahrung und offen zu sein für das, was sich im nächsten Augenblick ereignen wird. Deshalb ist im Gegensatz zu einer therapeutischen Technologie eine „personzentrierte Kairologie“ zu entwickeln — als Reflexion der Kunst, im richtigen Moment das Rechte zu tun (vgl. Schmid 1994).
Die drei Grundhaltungen, wegen ihrer unbedingten Zusammengehörigkeit auch als Triasvariable bezeichnet, sind, genau genommen, drei Dimensionen einer Haltung, die eben mit diesem Begriff der Gegenwärtigkeit oder Präsenz in ihrer existenziellen Dimension beschrieben werden kann und in der sie gleichsam — in einem hegelianischen Sinn — aufgehoben sind (Rogers 1986h; Schmid 1994, 228–244). Sie stellen drei Fassetten oder Ausfaltungen ein und derselben Weise dar, mit einem oder mehreren Anderen, in dessen oder deren Gegenwart zu sein, — kongruent und offen, wertschätzend und ohne Bedingungen, einfühlsam und ohne Beurteilungen. Gegenwärtigkeit in diesem Sinn ist eine Lebenseinstellung, ein "way of being", ja ein "way of being with" (Rogers 1975a, 4), eine Weise des Miteinander–Seins.
Ein solches relationales Verständnis transzendiert notwendigerweise die traditionelle Zweierbeziehung. Der Kontext (vgl. a. Barrett-Lennard 1998), das Thema, „der Dritte", die Gesellschaft und, therapeutisch besonders relevant, die Gruppe als Schnittstelle zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft kommen in den Blick. Es gibt nicht nur ein Du, nicht nur eine personale Beziehung, es gibt den Anderen immer nur in der (wenigstens potentiellen) Gegenwart des "Dritten", d. h. es gibt viele Andere. Daraus folgt, dass Handeln sich nicht mehr von selbst versteht und sich der Spielraum der Freiheit öffnet. (Levinas) Statt des Paares, statt "Ich und Du", wird nun die Gruppe, das "Wir", zum Grundelement von Interpersonalität (vgl. Schmid 1998b).Wir leben nicht in der Welt des (einen anderen) Menschen, sondern in der Welt der Menschen. Begegnung ist immer auch Überschreitung der Zwei–Einheit, der sich abschließenden "Zweisamkeit". Zu ihrem Wesen gehört der Plural.
Dies hat für eine Person–zentrierte Psychotherapie entscheidende Konsequenzen: Wiewohl gerade im deutschsprachigen Raum traditionell die Zweierbeziehung in der Therapie überschätzt und Gruppentherapie unterschätzt wird, kann in der Gruppe (als Schnittstelle zwischen Person und Gesellschaft) der natürliche und primäre Ort der Therapie gesehen werden, weil Probleme in der Regel in Gruppen entstanden sind; die Zweierbeziehung ist, so betrachtet, eine spezielle Gruppe, die besonderen Schutz bietet, der auch dort geboten werden soll, wo dies angemessen erscheint. (Schmid 1994; 1996; 2000b)
Förderung von Persönlichkeitsentwicklung durch Begegnung – von der Krankheit zur leidenden Person, vom Experten zum Facilitator
Statt einer Krankheits– oder Störungslehre im herkömmlichen Sinn kann es daher in genuin personzentrierter Sicht stets nur um eine Theorie der leidenden Person gehen. Personzentrierte Psychotherapie versteht sich ja, wie der Name sagt, nicht problem–, ziel– oder lösungsorientiert, sondern personorientiert.
Auf Grund der mit diesem Verständnis verbundenen Überflüssigkeit einer Neurosen– und Psychosenklassifizierung wurde der Personzentrierten Psychotherapie oft vorgeworfen, es handle sich um ein Einheitsmodell und einen Uniformitätsmythos; alle psychischen Krankheiten würden in einen Topf geworfen. Dies ist ein grobes Missverständnis: Nach diesem Ansatz wird eine leidende Person nicht einförmig, sondern jeweils differenziert gesehen und dementsprechend wird nicht uniform, sondern so weit wie irgend möglich individuell und differenziell, jeweils der Person bzw. der Beziehung entsprechend, therapeutisch vorgegangen. Störungsspezifische Überlegungen können dann als genuin personzentriert gelten, wenn sie nicht hinter die phänomenologische Radikalität von Rogers zurückfallen und nicht von Sicherheitsbedürfnissen der Therapeuten (etwa durch Klassifikation und Expertendiagnose) oder dem personalen Verständnis entgegenstehenden, herrschenden gesellschaftlichen Interessen geleitet sind (etwa im Zuge der Verhandlungen mit Sozialversicherungen um die Krankheitswertigkeit einer Störung), sondern auf phänomenologischer Basis je spezifische Theorien der leidenden Person ausbilden, um diese im konkreten Fall besser verstehen und an–erkennen zu können (Schmid 1992).[19]
Auf der Grundlage der vorangehenden Überlegungen lässt sich therapietheoretisch und –praktisch Personzentrierte Psychotherapie als der Versuch beschreiben, psychisches Leiden zu mindern oder zu heilen, indem Beziehungsbedingungen geschaffen werden, die eine Symbolisierung abgewehrten Erlebens zulassen, eine Minimierung der Inkongruenzen zwischen Selbst und Erfahrung und durch korrektive Erfahrungen eine Integration dessen möglich machen, was in der Entwicklung schief gelaufen oder defizitär ist. Anders ausgedrückt: Psychotherapie ist Selbsterfahrung in Beziehungen und damit Persönlichkeitsentwicklung durch personale Begegnung.
Beide Aspekte des Personseins sind zentral: Sieht man es vom Selbstbestimmungsaspekt her, so sind mangelnde Selbstständigkeit und subjektiv erlebte Ausweglosigkeit die Ursachen für eine eingeschränkte Sicht der Möglichkeiten zu handeln und leidvollem Erleben wirkungsvoll zu begegnen. Psychotherapie ist eine Therapie des Selbst, ein Prozess, welcher der Einschränkung der Selbstständigkeit entgegenwirkt durch die Unterstützung der Aktualisierungstendenz bei der Integration der Erfahrung in das Selbst: "Psychotherapeutisch handeln bedeutet, die potentiell vorhandenen Fähigkeiten eines kompetenten Individuums zu fördern." (Rogers 1959a, 47) Diese Förderung — der Therapeut wird hier als „Facilitator“ verstanden — der Autonomie geschieht durch eine personzentrierte Beziehung, die der Therapeut anbietet.
Sieht man es vom damit bereits angesprochenen Beziehungsaspekt her, so ist eine Beziehungsstörung ebenso die Ursache von psychischem Leiden wie ein Aspekt dieses Leidens (Pfeiffer 1991). Psychotherapie ist, so gesehen, eine Interaktion, welche die Beziehungsstörung aufzuheben bemüht ist durch eine Beziehung, die auf personale Begegnung hin offen ist. Genau betrachtet ist Psychotherapie ein Prozess, der sich von einer einseitigen, abhängigen Relation zwischen Therapeut und Klient in Richtung auf wechselseitige Begegnung entwickelt.[20] Der Therapeut versucht nicht, im herkömmlichen Sinne zu „helfen“[21], sondern er lässt sich als Person auf die Begegnung mit dem Klienten ein, den er gleichfalls als Person in den Blick nimmt, gibt auf diese Weise den traditionellen Schutz der Expertenrolle auf und tritt damit selbst in einen Prozess der Veränderung ein. Das Expertentum des Therapeuten besteht, pointiert formuliert, vielmehr gerade darin, sich nicht als Experte aufzuspielen oder, wenn es heikel wird, in die Expertenrolle zu flüchten, sondern in der Beziehung mit dem Klienten zu bleiben.[22]
Einige Fragen in Zusammenhang mit aktuellen Tendenzen und Strömungen im Umfeld des Personzentrierten Ansatzes sollen unter dem Gesichtspunkt diskutiert werden, wie weit sie mit dem beschriebenen personzentrierten Verständnis kompatibel sind.
Vorausgeschickt sei, dass es natürlich keinen „Beweis“ dafür gibt, dass die von Rogers initiierte und später von ihm und anderen immer genauer ausgearbeitete Theorie stimmt. Es gibt eine Reihe anderer Annahmen und auch sie haben viele gute Argumente für sich. Der Unterschied ist, dass sie von einer anderen anthropologischen Basis ausgehen und daher zu vielfach anderen Verhaltensweisen und sonstigen Konsequenzen kommen. Da es keinen Sinn macht, über Menschenbilder zu streiten — sie stellen immer Glaubensannahmen dar, „basic beliefs“ —, macht es auch keinen Sinn, andere Ansätze aus dem personzentrierten Theorie–Set heraus zu beurteilen (oder gar darüber zu streiten, wer nun im Recht sei). Sinnvoll ist nur, mit ihnen in Dialog zu treten und sich von ihnen in Frage stellen zu lassen, um die eigene Theorie besser zu verstehen bzw. sie zu revidieren (vgl. Schmid 1998a, 115f; Slunecko 1996).
Dies stellt weder eine orthodox–rigide oder dogmatische noch eine ausgrenzende, sondern eine klärende und auf besseres wechselseitiges Verständnis ausgerichtete Position dar. Zu unterscheiden ist schlicht eine Frage der Vernunft und der Ehrlichkeit. Über andere Ansätze ist damit nichts ausgesagt, weder über deren Wirksamkeit, deren Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit noch über die Qualität der Arbeit der sie ausübenden Therapeuten. In der respektvollen und kritischen Auseinandersetzung kann jeder Ansatz sein Eigenes weiter entwickeln.
Anderes soll aber auch anders benannt werden, um unzutreffenden Vermischungen und damit theoretischer wie praktischer Unklarheit entgegenzutreten. Es ist sauberer, beispielsweise die Arbeit auf einer absichtslosen Beziehungsebene von erlebens(prozess)stimulierendem Vorgehen auch terminologisch zu unterscheiden, weil verschiedene Vorstellungen von Therapie und daher vom Menschen dahinter stehen. Auch hier ist ein ethisches Problem gegeben, jenes der korrekten und klaren Deklarierung und der kohärenten und transparenten Arbeit.
Konsistentenes Therapieangebot versus Methodenergänzung, –integration und –kombination
Es macht aus dem beschriebenen Verständnis heraus wenig Sinn, Konsequenzen aus anderen Theorien in die personzentrierte Einstellung zu „integrieren“ (wie das bisweilen etwas euphemistisch genannt wird). Daher muss sich jeder Versuch, „ergänzende Verfahren“ einzuführen oder Methodenintegration bzw. –kombination zu verfolgen, vom Grundlegenden des personzentrierten Verständnisses von Psychotherapie her infrage stellen lassen. Dies ist immer eine Angelegenheit der Kompatibilität von den zu Grunde liegenden Glaubensannahmen her. Und zwar, wie oben ausgeführt, gerade auch unter ethischen Gesichtspunkten, weil der Klient ein Recht auf ein verantwortungsbewusstes und konsistentes Therapie– und damit Beziehungsangebot hat.
Andere Grundannahmen und darauf beruhendes anderes Handeln sind selbstverständlich zu respektieren. Aber sie sind etwas anderes. Kommt man zu anderen Ergebnissen — Rogers hat immer wieder ausdrücklich zu eigenständiger Theoriebildung und ebensolchem Handeln aufgefordert —, so sollte man sie auch entsprechend anders deklarieren.
Dem (Lippen–)Bekenntnis zu Rogers‘ grundsätzlichem Statement bezüglich der Grundbedingungen folgt nur allzu oft jedoch die zu diesem kontradiktorische Aussage, sie seien ergänzungsbedürftig (vgl. die Darstellung bei Wood 1986, 351). Vorschläge, die Personzentrierte Therapie zu erweitern, zu modifizieren oder andere Ansätze zu integrieren, seien es Grundkonzepte oder einzelne Techniken, finden sich sonder Zahl und in eher seltenen Fällen lässt sich ein Zusammenstimmen mit der Basis ihrer Philosophie und ihren Prinzipien feststellen.[23]
Dies gilt vor allem für „zusätzliche Vorgangsweisen“. Immer wenn der Therapeut der Überzeugung ist, er müsse den Therapieprozess steuern, lenken, beeinflussen, den Klienten auf etwas hinweisen, ihm Vorschläge machen oder ihn zu etwas anleiten, verzichtet er auf ein Stück Vertrauen in die Aktualisierungstendenz des Klienten und lässt nicht mehr den Klienten wählen, welche seiner Möglichkeiten der Klient auf welche Weise wählt. Statt die Verantwortung für den Umgang mit den eigenen Ressourcen ganz beim Klienten zu belassen, hält er es für notwendig oder sinnvoll, von der Grundhaltung der authentisch–akzeptierenden und authentisch–einfühlsamen Präsenz abzugehen; statt zu ermöglichen (facilitate) entscheidet er sich dazu anzuleiten (direct); statt dem Klienten zu folgen und ihm dadurch zu „antworten“, wählt er den Weg etwas vorzugeben; statt zu begegnen den, anzuweisen, zu bestimmen oder zu kontrollieren. Man kann es auch weniger vorsichtig ausdrücken: Es ist — immer aus personzentrierter Sicht betrachtet — letztlich eine Bevormundung des Klienten.
Personzentrierte Therapie versus Focusing–(zentrierte) bzw. Experienzielle Therapien
So unterscheiden sich bei aller Verwandtschaft mit und Herleitung von Rogers’ Ansatz die verschiedenen Richtungen, die sich im Gefolge Gendlins entwickelt haben — sei es die „Focusing–orientierte Psychotherapie“ Gendlins (1996), die Focusing–Therapie Wiltschkos (1995), die vielen Spielformen „experienzieller Therapie“ oder die „prozessdirektive Therapie“ Greenbergs (Greenberg/Rice/Elliott 1993; Greenberg/Watson/Lietaer 1997) — von der Personzentrierten Therapie, die auf den Grundannahmen von Rogers beruht, gemeinsam dadurch, dass sie von der absichtslosen, auf die Aktualisierungstendenz des Klienten vertrauenden Haltung der Präsenz des Therapeuten zu einem mehr oder minder starken Ausmaß an Steuerung des Klienten durch den Therapeuten übergehen. Dieser hat eine bestimmte „Intention“ (Gendlin 1993). Der springende Punkt ist, dass es hierbei nicht nur um einen Wechsel der Betrachtungsweise geht, von der Person und Beziehung zum inneren Erleben des Klienten (wie es der Name „experienziell“ aussagt), sondern dass die Beziehung benützt wird, um das innere Erleben des Klienten in bestimmter Weise zu stimulieren.
Rogers hat den Einfluss von Gendlins experienziellem Konzept zwar ausdrücklich anerkannt und das Experiencing–Konzept übernommen, Experiencing dabei aber stets als abhängige und nie als selbstständige Variable betrachtet (Rogers 1958b; Rogers/Gendlin/Kiesler/Truax 1967). Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben war für ihn Resultat, nicht Grund der Therapie. Das kommt besonders auch darin zum Ausdruck, dass, Rogers (1957d) zufolge, die Erfahrungsoffenheit der „fully functioning person“ aus den Beziehungen resultiert, in denen sie steht, und nicht umgekehrt (vgl. Prouty 1994; 1999).
Brodley (1990) hat hervorgestrichen, dass der Unterschied darin liegt, dass Rogers der Person als solcher, Gendlin dem experienziellen Prozess vertraut. Daher heißt auch Zuhören etwas anderes, wenn der Therapeut damit nicht auf die Person als solche, sondern — selektiv — auf den Felt Sense bezogen ist. Prouty (1999, 4) nennt dies einen „phänomenologischen Reduktionismus“, die „Reduktion der Person auf den Prozess“, Die Reduktion der Empathie selektiv auf das Experiencing, statt sie ganzheitlich auf das Selbst zur richten (ebd. 15, 18). Die Namensgebungen der Therapieformen sagen dies deutlich aus: Statt um die Person als ganze geht es um Focusing („Focusing–[orientierte] Therapie“) bzw. ums Erleben („Experienzielle Therapie“).
Der Prozess–Experienzielle Ansatz (Greenberg/Rice/Elliott 1993), der sich hinsichtlich dieser Diskussion vereinfacht dahingehend zusammenfassen lässt, es gehe darum, „den Prozess zu lenken, nicht den Klienten“, ist bestrebt, klientenzentrierte Haltungen mit prozessdirektiven Methoden zu kombinieren. Sie sollen den Klienten „mit Richtungsangaben und Vorschlägen“ dahin führen[24], „lösungsverbessernde und affektiv informationsverarbeitende Strategien“ zu benutzen, um den Fortschritt im Prozess zu steigern (ebd. 15). Außerdem werden im Wie des Prozesses „Marker“ für die Grundlage (prozess)diagnostischer Überlegungen gesehen, denen zufolge die Anwendung unterschiedlicher Techniken für die Unterstützung der Informationsverarbeitung bei unterschiedlichen Klienten und in unterschiedlichen Phasen erforderlich wird — ganz im Gegensatz zu der eingangs referierten Sicht von Rogers. Der Therapeut wird damit zum „Prozessexperten“, der des Klienten Experiencing lenkt (ebd. 17).
Die prinzipielle Nichtdirektivität der personzentrierten Einstellung ist also von einer Gerichtetheit abgelöst.[25] Und hier unterscheidet sich eine, wenn auch noch so sehr auf den Prozess beschränkte, direktive Haltung von der Haltung der Begegnung. Die Person des Therapeuten entzieht sich der unmittelbaren Herausforderung durch die Person des Klienten.[26]
Im Person–zentrierten Ansatz wird, wie bereits erwähnt, der Stellenwert von Methoden und Techniken völlig relativiert. Rogers (1957a, 182) streicht hervor, dass seine Hypothese über therapeutische Persönlichkeitsentwicklung ausdrücklich auch die sogenannten klientenzentrierten Techniken, wie beispielsweise das von ihm selbst beschriebene „Reflektieren von Gefühlen“ als keine wesentliche Therapiebedingung erscheinen lässt. Den Techniken kommt bestenfalls eine Hilfsfunktion für unsichere Therapeuten zu; sie sind nur in dem Maß relevant, in dem sie als Kanäle für die Erfüllung der Grundhaltungen dienen (ebd. 183).
Die therapeutische Beziehung ist hingegen im beschriebenen Sinn als Begegnung charakterisiert durch Un–Mittel–barkeit (ist also letztlich bar aller Mittel, die zwischen den Personen stehen), in der Haltung der Gegenwärtigkeit ganz offen für den jeweiligen Augenblick und seine Möglichkeiten. Dieser Bereitschaft für den Kairos entspricht eine absichtslose Einstellung, ohne geplantes Vorgehen. Techniken, die eingesetzt werden, um etwas zu erreichen, widersprechen dem explizit.
Das betrifft nicht nur das eher primitive Missverständnis der „Therapeutenvariablen“ als Skills bzw. trainierbare Interventionstechniken (wo dann beispielsweise „zusätzliche Variablen“ wie „Selbsteinbringung des Therapeuten“ oder „Konfrontation des Klienten“ eingeführt wurden, um scheinbar fehlende Techniken zu ergänzen). Auch alle von außen in die Beziehung eingebrachten Techniken im Sinne geplanter Interventionen und Strategien, auf die aus einem Reservoir zugegriffen wird, werden dieser beschriebenen Weise, „miteinander zu sein“, zweifellos nicht gerecht. Dies trifft sowohl auf ein angesammeltes Methodenarsenal zu, das im Bedarfsfall eingesetzt wird, weil sich etwas Bestimmtes in ähnlichen Situationen bewährt hat, wie auf Vorgangsweisen, die man einmal an sich selbst als hilfreich erlebt hat und nun anderen zugute kommen lassen möchte.[27]
Versteht man unter "Technik" (griech. tecnh [techné] = Kunstfertigkeit[28]) aber nicht Technologien, sondern jeweils kreativ in der aktuellen Beziehung entwickelte Vorgangsweisen, konkrete Kunstfertigkeiten bzw. Merkmale der Beziehungsgestaltung, dann relativiert sich die Gegenüberstellung von Begegnung und Technik zugunsten einer kunstvollen Beziehungsgestaltung.[29] So spricht etwa Frenzel (1992) von persönlich entwickelten Stilmitteln. In der Ausbildung und durch Erfahrung arbeitet jeder Therapeut seine ihm als Person und seinen Begabungen entsprechenden "Techniken" heraus, die dann ihrerseits als Rahmen verstanden werden können, in dem sich die Beziehung entwickelt bzw. die Haltungen „transportiert“ werden.[30]
Wolfgang Keil (1998, 32) ist dahingehend uneingeschränkt zuzustimmen, dass Techniken im jeweiligen Kontext individuell kreiert werden müssen. Es erscheint aus personaler Perspektive jedoch kontraproduktiv, dies mit Hilfe einer Methodik, eines „Sets an therapeutischem Handwerkszeug“ (ebd. 33), zu erlernen, besonders dann, wenn dieses auf Modellen, beruht, die mit den personzentrierten Prinzipien nicht vereinbar sind. Keil (ebd. 35) spricht von „professionellen Arbeitshaltungen“, die „therapeutisches Handwerkszeug“ erfordern und nennt als Beispiel das Erlernen der Fähigkeit, „inneres Erleben vertiefen können“ (ebd. 35, 39). Dies steht jedoch, wie bereits erwähnt, nicht nur zum Vertrauen in die Aktualisierungstendenz quer, sondern ist schlicht ein anderer therapeutischer Ansatz.
Die personzentrierten Grundhaltungen haben eben keine „funktionale Bedeutung“ (ebd. 34), sondern stellen eine gelebte, durch die Person gedeckte Praxis ohne bestimmte Absicht dar. In diesem Sinne bezeichnen sie Biermann–Ratjen, Eckert und Schwartz (1995, 48–51) „nicht als ‚Technik‘ oder ‚Behandlungsmethode‘, die anderen therapeutischen Techniken gegenübergestellt werden kann“ bzw. ironisch „als einzige ‚Technik‘“. Wer sie mit „allgemeinen humanen Qualitäten“ verwechselt, wie dies allenthalben außerhalb des Ansatzes geschieht, oder sie als solche abqualifiziert, übersieht, dass sie gerade als „professionelle Arbeitshaltungen“ (Keil 1998, 34) authentischer Ausdruck der Einstellung der Person und als solche eine existenzielle Mitteilung an den Klienten sind.
Insofern ist auch das Argument problematisch, Therapie sei immer zielorientiert bzw. verfolge eine Strategie (ebd. 34, 43). Personzentrierte Therapie hat als einziges (paradoxes) Ziel, kein Ziel für den anderen zu haben, sondern ihm zuzutrauen, dass er selbst seine Ziele setzen und verfolgen kann, wobei sie ihn unterstützt. Ihre einzige Methode ist die, keine Methoden im herkömmlichen Sinn zu gebrauchen.
Auch sind Wissen und Kenntnis in einer umfassenden Realisierung der Grundhaltungen ein– und gerade nicht ausgeschlossen: Wer fühlte sich von jemandem verstanden oder akzeptiert, der nicht „weiß, worum es geht“. Insofern ist in der Forderung, eine genügende Kenntnis von den spezifischen Erlebensprozessen und Entstehungsbedingungen im Klienten zu haben (Binder 1994) oder die lebensgeschichtliche Perspektive zu beachten (Finke 1990), kein Widerspruch zu einer Verwirklichung der personzentrierten Haltung zu sehen — im Gegenteil: Therapeuten sind als ganze Personen, mit Leib und Seele und Hirn, gefordert. Dazu sind die beste Bildung und das umfassendste Wissen, die wir haben können, gerade gut genug — ebenso wie Selbsterfahrung, Reflexionsfähigkeit usw. Wie diese muss auch das Wissen in die Person und ihre Kommunikation integriert sein.
Denn das einzige „Handwerkszeug“ oder Instrument des Therapeuten ist er selbst als Person.
Deshalb erscheint auch eine Aufzählung klientenzentrierter Methoden (z. B. Keil 1998, 37–39 und die dort genannten Autoren) problematisch, weil sie dann ein Hindernis auf dem Weg zur Begegnung sind, wenn sie anders als je individuell und situational kreiert werden. (Die daraus entstehenden „Methoden“ aber wären eben dann genau so viele, wie es Therapiesituationen gibt.) Dies gilt auch, wenn man sie unter die Grundhaltungen unterordnet oder neben sie stellt. Es kann aus dem personzentrierten Grundverständnis heraus nichts „neben der Verwirklichung der Grundhaltungen“ (ebd. 37) geben. Schon die bloße summarische Aufzählung von Methoden oder Techniken insinuiert einen anzustrebenden Verhaltenscluster oder lenkt die Aufmerksamkeit des (angehenden) Therapeuten darauf, ob er sich „erlaubt“ oder „richtig“ verhält. So ist beispielsweise „aktives Zuhören“ im Sinne von Rogers eben keine Methode (die okay wäre, während Interpretieren nicht okay wäre), sondern Ausdruck personaler Begegnung.
So verständlich der Wunsch nach Handwerkszeug ist, so wichtig ist, diesen Wunsch in der Ausbildung zu verstehen statt ihn einfach zu befriedigen, ähnlich wie bei Klienten, die so gerne Ratschläge oder wenigstens Beispiele dafür bekommen möchten, wofür sie selbst mühsam einen eigenen Weg finden müssen. Dieser würde aber gerade erschwert, würde er durch einen Therapeuten, der „sich erbarmt“ und einen Weg vorzeigt oder anbietet, davon abgehalten, die eigenen Ressourcen zu mobilisieren. Der Weg in die Selbstständigkeit führt nicht oder nur als gewaltiger Umweg über methodische Abhängigkeit.
Von daher erscheint es auch wichtig, in der Ausbildung insofern konsequent vorzugehen, als die Auszubildenden nicht zuerst bestimmte Techniken erlernen sollen, die sie dann später zugunsten einer personalen Haltung wieder „vergessen“ oder „überwinden“ sollen, sondern Ausbildung von Anfang an als Entwicklung der Persönlichkeit, als Heraus–Bildung des je persönlichen Potenzials, zu gestalten, in der die Teilnehmer lernen, anderen von Person zu Person gegenüberzutreten, anderen und sich selbst zu vertrauen. Einzig darin besteht die spezifische Kompetenz des Personzentrierten Therapeuten.
Auch dies lässt sich unter einem ethischen Gesichtspunkt sehen: Gefragt, ja gefordert ist, standzuhalten und das Beste anzubieten, was man anzubieten hat: sich selbst als Person. Denn gerade in schwierigen Situationen ist die Versuchung groß, zu Schablonen zu greifen (und so vor dem existenziellen Anspruch davonlaufen); es gilt vielmehr auszuhalten, als Person dabei zu bleiben, wenn eine andere Person nicht mehr weiter weiß.
Und hier liegt meines Erachtens auch der Unterschied dem Wesen nach zwischen der verschiedenen Ausbildungskonzepten, die im person–/klientenzentrierten Bereich angeboten werden.[31]
Innerhalb des Ansatzes werden (oft in Anlehnung an Finke 1994, 13–25; 1999a; 2000) im Sinne von Akzentsetzungen in letzter Zeit immer öfter Positionen unterschieden und beschrieben. Etwa innerhalb der phänomenologischen Richtung personzentrierter Theoriebildung und Praxis stärker empirisch–deskriptive, bisweilen positivistische, mit einer starken Betonung der Aktualisierung und der bedingungsfreien Wertschätzung („Selbstregulations– oder Aktualisierungsmodell“, etwa Biermann–Ratjen/Eckert/Schwartz 1995; Bozarth 1998), versus stärker hermeneutischen mit dem Fokus auf Inkongruenz und einer Betonung der Bedeutung des empathischen Verstehens, meist unter Einbeziehung biographischer Zusammenhänge und einer störungsspezifischen Differenzierung ("Konflikt– oder Inkongruenzmodell", z. B. Swildens 1991; Binder/Binder 1991; Finke 1994; 1999b; Keil 1997) und stärker beziehungstheoretisch–interpersonale mit dem Akzent auf Begegnung, Dialog und Interaktion und einer Betonung der Kongruenz („Interaktions– oder Dialogmodell“; z. B. Pfeiffer 1991; 1995a; Schmid 1991; 1994; 1996).
„Wachstum, Konflikt und Begegnung“ (Finke 2000) sind zweifellos zutreffende paradigmatische Stichwörter für diese Strömungen, wenn man sie nicht als gegenüberstellend oder einander ausschließend missversteht. Solche Unterscheidungen erscheinen hilfreich, um verschiedene Akzentsetzungen hervorzuheben und diese zu verdeutlichen (wo es sich wirklich um Akzentsetzungen, Zugangs– oder Sichtweisen handelt). Sehr wichtig aber erscheint mir, dass, hier ganz im Sinne Finkes (1994, 2, 20, 24), die Positionen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Und dass dabei das Ganze nicht aus dem Auge verloren wird.
Aus der in diesem Aufsatz dargestellten anthropologischen Bestimmung des Personzentrierten Ansatzes beispielsweise ergibt sich, dass die Betonung der Aktualisierungstendenz und jene der Begegnung einander vom Personbegriff her nicht nur nicht ausschließen, sondern im Gegenteil wechselseitig bedingen. (Insofern wird eine Klassifizierung im Sinne einer Gegenüberstellung „klassischen“ personzentrierten Vorgehen zu einem personalen Ansatz weder dem einen noch dem anderen gerecht.) Die „Alter–Ego“–Position des Therapeuten, der dem Klienten folgt, und die dialogische, die dem Klienten gegenübertritt, würden je für sich allein den eingangs genannten Bedingungen von Rogers für eine am Wachstum der Person orientierte Psychotherapie nicht genügen! Nur in der dialektischen Spannung beider ist das Geschehen tatsächlich Person–zentriert.
Es wäre einseitig, die verschiedenen Positionen, etwa empathische und dialogische, intra– und interpersonale Akzentsetzungen oder innerer Dialog versus Dialog in der Interaktion gegeneinander auszuspielen.[32] Es ist wichtig, den Anderen zu verstehen und ihm gegenüberzutreten und zu ant–worten, sich einzufühlen und "dagegenzuhalten", bedingungsfrei zu akzeptieren und authentisch zu sein, Alter Ego und Partner zu sein, der als Person in Dialog tritt.[33] Hier ist nicht von einem Entweder–Oder, sondern, entsprechend den beiden Traditionssträngen im Verständnis von Person von Ergänzung oder besser von einer dialektischen Spannung auszugehen.
Auch muss empathisches Verstehen immer hermeneutisches Verstehen (vgl. Keil 1997) sein in dem Sinne, dass es nicht die eigentliche Aufgabe des Therapeuten ist, den Klienten immer besser zu verstehen, sondern diesen dabei zu unterstützen, sich selbst immer besser zu verstehen (und daher sich selbst zu akzeptieren und also kongruent sein zu können) — wozu er natürlich trachten muss, ihn zu verstehen[34], aber nicht um des Therapeuten, sondern um des Klienten Verstehen willen. Deshalb gehört auch eine die Inkongruenz des Klienten (siehe Rogers Bedingung Nummer 2) und damit seine inneren und äußeren Konflikte empathisch verstehende Haltung unabdingbar zum personzentrierten Handeln. Welches Akzeptieren könnte ohne diese Haltung sinnvoll stattfinden? Und welcher Dialog machte ohne diese Vergegenwärtigung des Dialogpartners Sinn?[35]
Versteht man die konflikttheoretische, an Inkongruenz orientierte Position jedoch als eine, die ein inhaltliches oder prozessuales Expertentum des Therapeuten einschließt, der den Selbststeuerungskräften des Patienten etwas Bestimmtes hinzuzufügen hätte, etwa inhaltliches oder Prozess–Wissen oder Knowhow hinsichtlich des Transfers von der Erkenntnis zum Handeln usw., dann stellt sich auch hier die Frage, ob es sich um einen Ansatz handelt, der noch auf der Basis der von Rogers benannten notwendigen und hinreichenden Bedingungen steht.
Last but not least: Ein ganzheitliches, also personorientiertes Verständnis der von Rogers genannten Einstellungen erfordert, die drei Haltungen als verschiedene Dimensionen einer Grundhaltung zu verstehen — wie gezeigt, ist dafür der Ausdruck Gegenwärtigkeit angemessen — und sie nicht gegeneinander auszuspielen. Was nützte Akzeptieren ohne Verstehen, was nützte Verstehen ohne Akzeptieren und beides ohne Echtheit?
Problematisch erscheinen Einteilungen als solche innerhalb der Personzentrierten Therapie, wenn die aufgeführten Strömungen auf anderen Grundannahmen beruhen als den von Rogers postulierten. Wo immer eine „Verwirklichung der Grundeinstellungen so“ erfolgt, „dass“ ein bestimmte Absicht verfolgt wird, werden sie instrumentalisiert und entsprechen nicht mehr der von Rogers beschriebenen personalen Haltung, sondern reihen sich unter jene Therapieformen, die eine bestimmte Haltung und ein Verhalten einsetzen, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Wie etwa am Beispiel der experienziellen Richtungen gezeigt, handelt es sich dabei dann jeweils um einen anderen anthropologischen und therapietheoretischen Zugang. Hilfreich sind solche ausdifferenzierenden Einteilungen hingegen vor allem dahingehend, die jeweils eigene Position kritisch zu hinterfragen, welche Einseitigkeiten sie enthält und welche Dimension am ehesten ausgeblendet wird.
Die Entscheidung für eine bestimmte Therapie bzw. ein bestimmtes therapeutisches Handeln ist, so habe ich zu zeigen versucht, eine ethische Fragestellung, wie es die Entscheidung zur Psychotherapie als solche ist. Therapie, verstanden als personale Begegnung, ist die Realisierung einer ethischen Position, die von der kairotischen Ermächtigung des Klienten statt von der egologischen Mächtigkeit des Therapeuten ausgeht. Die untrennbare und uneinholbare Zusammengehörigkeit von Selbstständigkeit und Beziehung macht das Einzigartige an jenem Ansatz aus, der sich als einziger kompromisslos am Menschen als Person orientiert. Diese Dimensionen mehr und mehr auszuloten, lässt eine spannende Weiterentwicklung des Ansatzes erwarten. Die grundlegenden Positionen von Rogers sind weder überholt noch von anderen Ansätzen her ergänzungsbedürftig; sie sind noch nicht einmal eingeholt und ausgeleuchtet.
Ein halbes Jahrhundert nach Rogers’ revolutionärem Statement, in einer Zeit, in der sich ziel– und methodenorientierte Psychotherapieansätze nicht zuletzt dank gesellschaftspolitischer Effizienzansprüche einer beträchtlichen Konjunktur erfreuen, ist eine genuin personzentrierte Grundorientierung vielleicht aktueller denn je. Gewinnen auch in den verschiedensten Schulen, etwa in den neueren Entwicklungen der Psychoanalyse oder in den systemischen Therapien personale Konzepte und die aktuelle Beziehung in der Therapie immer stärker an Bedeutung — hierin ist bereits ein Einfluss der Personzentrierten Therapie zu sehen — so bleibt doch der radikale Ansatz, Psychotherapie ausschließlich an der Person zu orientieren, uneingeholt und provokativ wie eh und je. Der Personzentrierte Ansatz liegt gerade deshalb vielen zeitgeistigen Forderungen quer, etwa jener nach der Effektivität therapeutischen Handelns, die ausschließlich in Kategorien denkt, wie man möglichst rasch, billig und schmerzlos „Probleme wegmachen“ kann. Er ist der emanzipatorische Ansatz par excellence gegen die Versuchung zur Technifizierung und einseitigen Effizienzorientierung der Psychotherapie — auch dies eine ethische Herausforderung, eine, die sich vielleicht heute mehr stellt als jemals zuvor.
Anmerkungen
* Originalfassung eines Artikels für "Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie", hg. v. W. Keil u. G. Stumm, Wien (Springer) 2002, 75-105
[1]
Vgl. zum Ganzen Schmid 1999a; 2000a.
[2]
Konstruktive
Persönlichkeitsentwicklung ereignet sich, wenn
Folgendes gegeben ist:
1. Es
besteht ein psychologischer Kontakt, also ein
Minimum an Beziehung zwischen Therapeut und
Klient.
2. Der Klient befindet sich in einem Zustand
der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich.
3. Der Therapeut ist in der Beziehung
kongruent.
4. Der
Therapeut empfindet eine bedingungsfreie
Wertschätzung für den Klienten.
5. Der
Therapeut empfindet empathisches Verstehen für den
Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem
Klienten gegenüber zum Ausdruck zu bringen.
6.
Die Kommunikation der bedingungsfreien
Wertschätzung und des empathischen Verstehens
durch den Therapeuten erreicht den Klienten
wenigstens in einem minimalen Ausmaß.
[3]
Zum beträchtlichen Belegmaterial dafür vgl. die
Übersicht bei Patterson 1984 sowie ders. 1985,
217–220.
[4]
„Streng, rigoros, peinlich genau“.
[5]
In der Folge ist der Lesbarkeit halber auf die
durchgehende Anführung beider Geschlechter
verzichtet.
[6]
Auch die hier kurz vorgestellten Ansätze sind
aus der Erfahrung (in Therapien wie in der
Ausbildung) und ihrer theoretischen Reflexion —
insbesondere in Auseinandersetzung mit dem
theologischen und philosophischen Personbegriff
(Schmid 1991) und der Dialogischen Philosophie,
vor allem Levinas’, sowie mit der Kunst,
insbesondere dem Theater und damit der Vielfalt
der Körpersprache (ders. 1994; 1997c; Schmid/Wascher
1994) — entwickelt worden. Dabei wurde allmählich
deutlich, dass der Personzentrierte Ansatz von
der Wurzel her — historisch wie inhaltlich
betrachtet — ein sozialpsychologischer Ansatz ist
und daher der Gruppe als Schnittstelle zwischen
Individuum und Gesellschaft besondere Bedeutung
zukommt (Schmid 1994; 1996; 1998).
[7]
Höger (1989) unterscheidet dementsprechend
zwischen den vier Abstraktionsebenen
„therapeutische Beziehung versus andere
Beziehungsformen“, „zusammenfassende Merkmale der
therapeutischen Beziehung“, „zusammenfassende
Verhaltensklassifikationen“ und „konkrete einzelne
Verhaltensweisen“; Finke (1994, 2; 1999a)
bezeichnet „Therapietheorie, Therapieprinzipien(–konzept)
und Therapietechniken“ als die drei Elemente einer
„Therapiemethodik.
[8]
Zu den entscheidenden (und damit unterscheidenden)
Merkmalen personzentrierter Therapie s. Schmid
1999b.
[9]
„Proswpon
[prósopon]“ bedeutet eigentlich „Gesicht“ (daher
auch die Bedeutung am griechischen Theater als
Maske, mit deren Hilfe der dargestellte Gott
sichtbar wurde — im Gegensatz zu unserem
Verständnis von „Maske“, bei der man „ein Gesicht
macht“ und sich selbst verbirgt). Näheres dazu s.
Schmid 1991.
[10]
Vgl. dazu a. Pfeiffer 1995b; Wittrahm 1995; Schmid
1996, 521–532; 1997b; 1998c.
[11]
Eigenen Aussagen zufolge wollte Rogers hier
überhaupt schreiben, die erste Bedingung sei, dass
sich zwei Menschen in Beziehung befänden, er habe
aber um der akademischen Anerkennung willen, die
psychologisch akzeptabler klingende Bezeichnung
„psychologischer Kontakt“ gewählt. In der
erklärenden Beschreibung verwendet er „Beziehung“
explizit.
[12]
So kam ich jüngst in den Besitz eines
Rogers–Manuskripts aus dem Jahr 1955 (!), in dem
Rogers auf die selbst gestellte Frage „What is a
person?“ bereits eine Prozessdefinition gibt („a
fluid process, potentiality, a continually
changing constellation, configuration, matrix, of
feelings, thoughts, sensations, behaviors. The structure of the process seems
configurational, not additive. [...] Another way
of stating this is that a person is a human
process of becoming“; Rogers 1955h, 1). Er
schreibt weiter — in dieser Reihenfolge: „The
person as process seems to me most deeply revealed
in a relationship of the most ultimate and
complete acceptance; a real I–Thou relationship“ (ebd.
2) und „In my experience, the deepest contacts I
have with persons reveal them, without exception,
to be directional in process, and my experience of
that direction is contained in such terms as
positive, constructive, creative, toward autonomy,
toward maturity, toward socialization, in the
direction of growth, toward greater richness or
differentiation.“
(Ebd.)
Bereits hier finden sich also Relationalität und
Individualität als die beiden Charakteristika der
Person. — Weitere Belege s. Schmid 1994, 107.
[13]
Mit dieser Formulierung scheint mir der
Sachverhalt noch präziser getroffen zu sein, als
wenn man von zwei Axiomen spricht (vgl. Schmid
1994, 281–283; 1999a).
[14]
Ausführlich zum Personbegriff und zum
personzentrierten Personverständnis: Schmid 1991;
1994; 1997a; 1998a; 1998d; s. a. Zurhorst 1989.
[15]
Wenigstens angemerkt soll hier werden, dass der
Mensch Person als Mann und Frau ist und
geschlechtsspezifische Aspekte des Personseins
(gerade auch in der Therapie) eine zentrale Rolle
für das Verständnis spielen (Winkler 1992), wobei
hier neuerlich eine dialektische Spannung des
Menschseins zutage
tritt.
[16]
Ausführliche Belege über diese Entwicklung und den
Gebrauch des Terminus „Begegnung“ s. Schmid 1994,
172–180.
[17]
So hatte Rogers über sich als Therapeut bereits
1955(a, 199) geschrieben: „Ich setzte mich selbst
aufs Spiel. [...] Ich lasse mich ein, auf die
Unmittelbarkeit der Beziehung.“
[18]
Ausführlich zum Verständnis von Begegnung: Rogers
1955a; 1962a; 1962c; 1970a; Schmid 1991, 105–121;
1994; 1998c; 1998e.
[19]
Differenzielle Ansätze können als
phänomenologische Differenzierungen eine wichtige
Orientierungshilfe bieten; wichtig ist, dass sie
nicht den Blick darauf verstellen, dass es
eigentlich um einen personspezifischen Ansatz geht
(der immer der Einmaligkeit der betroffenen Person
gerecht wird) und daher um eine völlig
differenzierte Sicht. Überall dort, wo
Klassifizierungen (so brauchbar sie auch im
Argument mit Krankenkassen sein mögen) ins
therapeutische Geschehen hineinkommen, müssen
zwangsläufig Akzeptanz, Empathie und Kongruenz
beeinträchtigt werden; denn dann wird aus dem
begegnenden, Person–zentrierten Therapeuten der
diagnostizierende, Krankheits–zentrierte.
[20]
Sie ist deshalb letztlich
für wechselseitige personale Begegnung offen.
Davon auszugehen,
Personzentrierte
Therapie sei immer und von allem Anfang an
wechselseitige Begegnung, wäre ein
idealistisches Missverständnis; sie ist oft,
jedenfalls meist zu Beginn in vielfacher Hinsicht
asymmetrisch. Aber sie ist offen für
Wechselseitigkeit. Die Angebote des Therapeuten
zur Begegnung mögen zunächst einseitig sein in dem
Sinn, dass für den Therapeuten personale Begegnung
ist, was für den Klienten noch nicht als solche
angenommen werden kann. Der Prozess aber bewegt
sich in Richtung auf volle, wechselseitige und
symmetrische Begegnung, bei der beide Personen
in freier und verantwortungsbewusster Weise
einander als Personen gegenübertreten und somit
einander als Personen gegenwärtig sind.
Ist dies verwirklicht, handelt es sich um keine
Therapie mehr. Damit ist das Ziel der Therapie
letztlich ihre Überwindung und also Abschaffung,
um wechselseitiger personaler Begegnung Platz zu
machen.
—
Von ihrer Natur her tendiert gerade die Gruppe zur
Überwindung einseitiger Begegnungsformen, weil die
strikte Trennung in "hie Therapeut, hie Klienten"
leichter aufgehoben werden kann.
[21]
In der therapeutischen Beziehung, so Rogers, habe
der Therapeut den Wunsch, eine Person
kennen zu lernen, nicht im üblich verstandenen
Sinn "helfen" zu wollen. "Hilfe", d. h. nach
personzentriertem Verständnis Förderung von
Persönlichkeitswachstum, geschehe dann "von
selbst", wenn es gelinge einander im beschriebenen
Sinne zu begegnen (vgl. Rogers/Buber 1960, 63;
Rogers 1992a, 32).
[22]
Um Missverständnisse zu
vermeiden, sei explizit erwähnt, dass personale
Begegnung natürlich den kritischen Blick nicht
ausschließt, im Gegenteil: Er ist in der Therapie
unabdingbar notwendig (und das beginnt mit der
Frage der Indikation). Beides ist (in wechselnder
Abfolge, dialektisch) erforderlich: Mit dem
Klienten, sozusagen an seiner Seite sitzend und in
die gleiche Richtung blickend, empathisch
mitzuerleben,
und ihn von innen her zu verstehen
und als Gegenüber ("Be–geg[e]n–ung"!) in der
Beziehung seinen eigenen Stand und seine eigene
Sicht, den Klienten face to face anblickend, zu
behalten bzw. zu entwickeln und ihn von da aus
anzuschauen.
[23]
Vgl. dazu a. Bozarth/Brodley 1986; Shlien 1986;
Raskin 1987; Patterson 1990; Schmid 1996, 289–299.
[24]
Die dabei verwendeten Begriffe für die Aktivität
des Therapeuten sind „guide,
suggest, stimulate, explicate, enhance“.
[25]
Im Prinzip dieselbe Überlegung gilt für explizit
erlebnisaktivierende Vorgangsweisen (z. B. Mente/Spittler
1980; Esser/Sander/Terjung 1996) sowie für ziel–
und interventionsorientierte (Sachse 1992) und
eklektische ("methodenintegrative")
Vorgangsweisen. Sie alle fallen hinter den
radikalen Paradigmenwechsel von Rogers zurück.
[26]
Die klare Unterscheidung in theoretischer und
praktischer Hinsicht schließt natürlich
Gemeinsamkeiten in anderen Aspekten nicht aus.
Und
es macht natürlich auch Sinn, in verschiedener
Hinsicht zusammenzuarbeiten und so den je eigenen
Ansatz weiterzuentwickeln. Von daher sind
gemeinsame Konferenzen (ICCCEP) ebenso sinnvoll
wie gemeinsame politische Arbeit (etwa im
Weltverband, WAPCCP).
[27]
Bozarth (1996) betont, dass der Einsatz von
Techniken üblicherweise problembestimmt und daher
problemzentriert erfolgt und vom Vertrauen in die
Selbstbestimmungskräfte des Klienten und der
Person als solcher wegführen: „Wenn ich überzeugt
wäre, ein bestimmte Technik zu wissen, die für den
Klienten am besten wäre, würde ich sie einsetzen.
Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das
passiert.“ (Ebd. 367). Ähnlich argumentieren
Brodley und Brody (1996), die nur jene Techniken
kompatibel finden, die vom Klienten ausgehen, und
jene nicht, die diagnostischen oder
zielorientierten Überlegung des Therapeuten
entspringen.
[28]
Aber eben auch in der Bedeutung „Kunstgriff,
List“.
[29]
Ähnlich kann man vom urspünglichsten Wortsinn her
„Methode“ verstehen (griech.
meqodoV
[méthodos] = das Nachgehen, von odoV [hodós] = der Weg),
das aber die Bedeutung von „planmäßig“
(methodisch) annahm.
[30]
Zur Frage der Techniken s. u. a. Bozarth 1996;
Brodley/Brody 1996; Frenzel 1992; Schmid 1994,
494–497; 1996, 289–298.
[31]
Vgl. dazu z. B. Finkes (1994, 4) „Training von
Gesprächstechniken bzw. die übende Ausformung von
Fertigkeiten“ oder die unterschiedlichen Konzepte
der österreichischen Ausbildungsangebote (Frenzel
1998).
[32]
Hier sehe ich auch die Problematik und
Einseitigkeit des “interaktionellen Ansatzes“ von
van Kessel und van der Linden (1991a; 1991b), weil
der interpersonale Aspekt dem intrapersonalen
vorgezogen wird (1991a, 21, 23) statt äußeren und
inneren Dialog gleich bedeutsam und in ihrer
Wechselwirkung zu betrachten.. Die Autoren
verstehen Psychotherapie „als einen Prozess
strategischer sozialer Beeinflussung“ (ebd. 32),
die therapeutische Beziehung als eine Möglichkeit,
Kommunikationsmuster transparent zu machen, wobei
ähnlich der Arbeit mit der Übertragung in der
Psychoanalyse die Aufgabe des Therapeuten u. a.
darin liegt, empathisch inkongruente
Kommunikationsweisen bzw. Beziehungserwartungen
bewusst zu machen, „die Geschichte des Klienten zu
interpretieren“, um einen „interaktionellen
Lernprozess“ in Gang zu setzen (ebd. 25; vgl. a.
Pfeiffer 1993; Finke 1999a). Hier wird die
Empathie funktionalisiert und vom Therapeuten eine
bestimmte Absicht gezielt verfolgt. Parallelen
(mit umgekehrten Vorzeichen) zu den Bedenken
hinsichtlich des Reduktionismus gegenüber dem
Ansatz von Gendlin drängen sich auf.
[33]
So auch Finke 1994, 2f, 20.
[34]
Keil (1996) etwa hat beschrieben, dass das
kongruente Noch–nicht–Akzeptieren und
Noch–nicht–Verstehen des Therapeuten einen
wichtigen Zugang zum Erfassen der Inkongruenz des
Klienten bietet.
[35]
Auch Keil (2000) argumentiert, ein
begegnungsorientiertes Verständnis der
therapeutischen Beziehung sei „mit einem
funktionalen Verständnis der Grundhaltungen
vereinbar, wenn bedacht wird, dass Ersteres von
der Philosophie her formuliert wird und personale
Begegnung dabei als Ziel und damit letztlich als
‚Überwindung und Abschaffung der Therapie‘
(Schmid) verstanden wird. Biermann–Ratjen, Eckert
und Schwartz argumentieren hingegen auf einer
psychologischen Ebene.“
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Autor
Peter F. Schmid,
Univ. Doz. HSProf. Mag. Dr.,
ist Begründer personzentrierter Ausbildung in Österreich (1969),
Psychotherapeut und Ausbilder der Akademie für Beratung und Psychotherapie des
Instituts für Personzentrierte Studien (IPS der APG). Zusammenarbeit mit Carl
Rogers in den achtziger Jahren.
Anschrift: A-1120 Wien, Koflergasse 4; E-Mail:
pfs@pfs-online.at.