Artikel Theologie  

Peter F. Schmid

Der Mensch ist Beziehung
Personalität aus sozialpsychologischer und philosophisch–anthropologischer Perspektive

(c) Diakonia 4/1998

Übersicht | Overview
Text | Article
Anmerkungen | Endnotes

Übersicht

Man kann nicht vom Menschen sprechen, ohne zugleich über seine Mit– und Umwelt zu sprechen
Beziehung in biologischer und psychologischer Sicht

Man kann nicht vom Menschen sprechen, ohne zugleich über seine Gemeinschaftsformen und sein Beziehungsverständnis zu sprechen
Beziehung in soziologischer und kultureller Sicht

Man kann nicht vom Menschen sprechen, ohne zugleich über seine Individualität und seine Beziehungsangewiesenheit zu sprechen
Beziehung in anthropologisch–philosophischer Sicht

Man kann nicht vom Menschen sprechen, ohne zugleich über seine Beziehung zu Gott zu sprechen
Beziehung in christlich–theologischer Sicht

Friedrich II. von Hohenstaufen soll folgendes Experiment durchführen haben lassen, um die Ursprache des Menschen zu erforschen: Er ließ einige elternlose Säuglinge in ein Haus zusammenbringen, wo er für sie jeg­liche Art von körperlicher Pflege anordnete, aber strikte verbot, mit ihnen zu reden. So sollte sich herausstellen, welche Sprache sie von sich aus spontan sprechen würden. Man erwartete, dass es entweder hebräisch, griechisch oder lateinisch sein würde — die damals als Urmöglichkeiten betrachteten Sprachen. Aber es war weder eine dieser Sprachen noch war es die Mundart der Eltern — die Kinder sprachen gar nicht: Sie starben.[1]

Diese Geschichte lehrt (und sie ist inzwischen durch vielfältige psychologische Untersuchungen belegt): Sprechen ist nicht einfach ein Produkt des menschlichen Lebens, Sprechen ist eine Voraussetzung dafür. Oder allgemeiner gesagt: Menschen bedürfen der Beziehung, um überhaupt lebensfähig zu sein.

Menschwerden heißt, aus einer Beziehung herkommen und in eine Beziehung hineinwachsen. Das ist eine Erfahrungstatsache, die wir in unserem vorwiegend subjekt– und individuumsbezogen gewordenen Denken oft übersehen. Die abendländische Denk– und Entwicklungsgeschichte hat mehr und mehr den einzelnen Menschen und seine Würde, seinen Wert und seine Rechte in den Mittelpunkt gestellt. Dies stellt eine in vieler Hinsicht bedeutende Leistung dar, nicht zuletzt in emanzipatorischer Hinsicht. Dabei ist aber sukzessive das Bewusstsein dafür in den Hintergrund getreten, dass es den Menschen in der Einzahl gar nicht gibt, wie sich Fichte ausdrückt: »Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch — sollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein.«[2]

Man kann nicht vom Menschen sprechen, ohne zugleich über seine Mit– und Umwelt zu sprechen
Beziehung in biologischer und psychologischer Sicht

Wir werden am Beginn unseres Lebens „empfangen“, entstehen aus einer Beziehung und werden in eine Beziehung zu unseren Eltern oder anderen „Bezugs–Personen“ hineingeboren: Jeder Mensch kommt aus einer »dialogischen Ursituation«. Die Psychoanalyse hat eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig die frühkindlichen Beziehungserfahrungen sind. Entwicklungspsychologisch ist längst erwiesen, dass ohne ein Mindestmaß an per­sön­licher Zuwendung bzw. Liebe Babys die Nahrungsaufnahme verweigern und sterben. Dies ist das bekannte Hospitalismusphänomen, das René Spitz untersucht hat und das im Prinzip ähnlich zu verstehen ist wie das Sprachexperiment Friedrichs II. Auch die neuere Säuglingsforschung[3] hat gegen die lange verbreitete Annahme eines vorwiegend passiven und rezeptiven Säuglings den Beweis erbracht, dass die Menschen von Anfang an ihr Leben als ein Leben in Beziehungen aktiv gestalten und dabei in hohem Maße initiativ sind. Um uns, biologisch wie psychisch zu entwickeln, bedürfen wir des anderen, genauer: der anderen.

Entwicklung in und durch Beziehungen

Dieses psychologische Grunddatum lässt sich durch das ganze Leben verfolgen. Etwa ist das aus Trotzalter und Pubertät bestens bekannte Neinsagen, das dort prinzipiellen Charakter annimmt, für die Ich-Entwicklung unbedingt notwendig. Indem das Kind Nein sagen lernt, seinen eigenen Willen entdeckt, lernt es Ich sagen; in der Ablehnung der Welt der Erwachsenen liegt für den Jugendlichen die Bedingung der Möglichkeit dafür, seinen eigenen Gestaltungswillen zu entdecken und von ihm Gebrauch zu machen, also erwachsen zu werden. Und kaum hat sich Mensch aus der (einseitigen) Abhängigkeit einigermaßen befreit, sucht er in der Regel neue Abhängigkeiten, indem er neue Beziehungen eingeht, Partnerschaften, die nun eine mehr oder weniger wechselseitige Abhängigkeit bedeuten. Sie zeigen, wie sehr und umfassend der Mensch der Beziehung bedarf. Zusätzlich gibt es eine Reihe anderer Beziehungen, die konstitutiv für das Selbstverständnis eines Menschen sind: Freundschaften, Arbeitsbeziehungen, soziale Aufgaben, die Beziehungen zu Sachen oder Werten: etwa zur eigenen Arbeit, zu einer Aufgabe, der man sich widmet usw. Wo es sich nicht um explizit geregelte und institutionalisierte Formen des Zusammenlebens handelt, wie beispielsweise in der Ehe, in Lebensgemeinschaften oder beim Ordensleben werden diese Beziehungen umso wichtiger. Und es wird deutlich, dass es natürlich nicht nur Beziehungen zu Menschen sind, in denen wir leben: Wir haben eine Beziehung zur Natur, zur Kunst, zur Technik (zum Computer beispielsweise, der die neue Dimension der Beziehung zu virtuellen Welten, zum Cyberspace, gebracht hat), zum Beruf, zu einer Idee. Der Mensch entwickelt auch eine Beziehung zu „höheren (ihm überlegenen) Mächten“, zu Göttern und Gott (oder er lehnt eine solche Beziehung bewusst ab). Und wir haben — gelernt in und aus den Beziehungen zu anderen — eine Beziehung zu uns selbst. Last, but not least: Auch um Leben weiterzugeben bedürfen wir, selbst im Zeitalter der künstlichen Befruchtung, nach wie vor des anderen. Und Sterben will wohl auch kaum ein Mensch allein.

Kein menschliches Leben ohne Beziehungen. Wir können viele davon wählen und alle bewusst gestalten. Sie sind es, die unser Menschsein ausmachen.

Man kann nicht vom Menschen sprechen, ohne zugleich über seine Gemeinschaftsformen und sein Beziehungsverständnis zu sprechen
Beziehung in soziologischer und kultureller Sicht

„Anthropos zoon politikon.“ Schon Aristoteles hatte es auf den Punkt gebracht. Wörtlich heißt das: „Der Mensch ist ein (Stadt-)Staaten bildendes Wesen“. Oder: Was den Menschen auszeichnet, ist, daß er Gemeinschaften bildet. Das lateinische Wort „communio“, das im Verständnis der Kirche seit dem Konzil eine besondere Bedeutung hat, bezieht sich auf denselben Sachverhalt: „Com–munis“ heißt: „gemeinsame Mauern haben“. Man kann sich dazu ein Haus, in dem man gemeinsam wohnt, oder eben eine Stadt mit einer Stadtmauer vorstellen. »Communio« bezeichnet die »durch einen gemeinsamen Lebensraum verbundenen und aufeinander angewiesenen Menschen«.[4]

Zwischen Individualismus und Kollektivismus

In solchen Gemeinschaften bildet der Mensch Beziehungskulturen heraus, die einem ständigen Wandel unterliegen. Es gab und gibt Zeiten und Kulturen, Religionen und Ideologien, die den Beziehungsaspekt so stark in den Vordergrund gestellt haben, dass vom einzelnen Menschen fast nichts mehr überbleibt oder sich seine Bedeutung dem Kollektiven unterzuordnen hat (wofür ihm andererseits Sicherheit versprochen wird). Faschismus und real existierender Sozialismus, eine Reihe von Sekten und Gemeinschaftsformen oder Bünden sind Beispiele aus der jüngeren Zeit. Genau besehen, ist es aber nicht die Beziehung, die hier im Vordergrund steht, sondern das Kollektive, die Masse als solche, die dem Einzelmenschen Freiheit und Entscheidungs­notwendigkeit nimmt bzw. sie einschränkt. Sie fördert aber deshalb noch lange nicht auch schon dadurch sein zwischenmenschliches Beziehungsleben, stellt dafür jedoch die Beziehung zu einer Idee über alles.

Der Beziehungsaspekt des Lebens wurde dem Menschen unseres Kulturkreises im 20. Jahrhundert wieder besonders bewusst. Neben den bereits erwähnten kollektivistischen Ideologien und der Betonung und Etablierung sozialer Standards im privaten und öffentlichen Leben sind beispielsweise die Richtungen der philosophischen Anthropologie (siehe unten) und die Entwicklung im Bereich der Politologie und Kommunikations­wissenschaften oder der Soziologie, Pädagogik, Psychologie und Psychotherapie ein beredtes Zeugnis dafür. Die globale Vernetzung durch die modernen Medien hat eine praktisch unumkehrbare Situation der Angewiesenheit aufeinander und der Mitbetroffenheit voneinander herbeigeführt. Indem wir Nachrichten von Ereignissen aus der ganzen Welt nahezu in Echtzeit erhalten, sind wir von diesen Ereignissen in unserem eigenen Leben direkt und unmittelbar betroffen.

In den konstruktivistisch–systemischen Richtungen, die gegenwärtig in Mode sind, hat dies sogar so weit geführt, daß, statt einseitig vom Individuum her die Beziehungen zu denken (metaphorisch ausgedrückt: Die Beziehungen sind die Verbindungslinien zwischen einzelnen Punkten, welche die Individuen darstellen), umgekehrt nun die Individuen von den Beziehungen her verstanden werden (im Bild wird von den Linien ausgegangen; wo sie einander schneiden, sind die Individuen konstituiert).

Vieles deutet auf der anderen Seite wieder darauf hin, dass sich Menschen gegen eine zu starke Verflechtung in Beziehung wehren. Man denke an das Phänomen der Singles, an die individualistische Lebensweise vieler Menschen, an den Rückzug aus dem gesellschaftspolitischen Engagement, aus Parteien und Kirchen.

Virtuelle Beziehungen

Die Entwicklung geht unter anderem dahin, dass der Mensch weniger »hinausgeht« und – man denke ans Internet und die Vielfalt der Möglichkeiten virtueller Beziehungen im Cyberspace — statt dessen die Welt ins Haus holt. So zeigt etwa der bereits wieder vorübergegangene Boom der Tamagochis, jener bei den Kindern beliebten Computerspielzeuge in Form »virtueller Haustierchen«, das Phänomen in seiner Ambivalenz verdichtet auf: Möglichst ohne realen Aufwand, aber mit ungeheurer Hingabe und Zuwendung wollten diese Dinger betreut sein: Gekost, erzogen, gepflegt, reingehalten, gefüttert, alles per Knopfdruck. Ihr Exitus löste heftige Tränen aus — und am nächsten Tag den Druck auf den Reset–Button, womit alles wieder von vorne beginnen konnte. Einerseits: Wohin sind wir geraten, wenn statt Hund und Katze ein Computertierchen die Herzen der Kleinen erobert? Kein reales Streicheln, kein realer Schmutz, keine reale Beziehung. Aber das gibt es ja bei Märchen und Geschichten auch nicht, auch dort spielt sich alles in der Phantasie ab! Und auch Puppen werden nicht wirklich gefüttert und saubergehalten. Andererseits also eine Chance zur Einübung von Verantwortung und Beziehungsgestaltung. Und ein Beweis dafür, dass auch in einem sterilen Einkind–Haushalt ohne Haustier die Beziehung über alles geht.

Man kann nicht vom Menschen sprechen, ohne zugleich über seine Individualität und seine Beziehungsangewiesenheit zu sprechen
Beziehung in anthropologisch–philosophischer Sicht

Seltsamerweise hat es in der Geschichte der Reflexion des Menschen über sich selbst lange gedauert, bis wir anfingen, uns auch selbst philosophisch als etwas Eigenes wirklich frag–würdig zu werden. Erst Kant vollzog den Schritt über die Ontologie hinaus zur Anthropologie. Solange die Philosophie nach dem Menschen nicht anders fragte als nach anderem Vorfindbaren, ihn also als Objekt in den Blick nahm, übersah sie, dass die Frage »Was ist der Mensch?« nicht genügend berücksichtigt, dass der Fragende in seiner Frage selbst immer schon miteingeschlossen ist. Es hat viele Jahrhunderte gedauert, bis deutlich wurde — explizit und radikal wurde der Schritt erst durch die Dialogische Philosophie in diesem Jahrhundert vollzogen —, dass der Versuch, den Menschen und damit auch sich selber zu verstehen, angemessen nicht in objektivierender Weise, sondern nur aus der Intersubjektivität der Beziehung heraus geschehen kann, also von Subjekt zu Subjekt. Das heißt, dass beim Menschen nicht wie bei einem Objekt nach dem »Was?«, sondern immer aus der Beziehung heraus nach dem »Wer?« zu fragen ist. Genau genommen, kann man dann auch nicht mehr allgemein fragen, wer der Mensch sei; die adäquate Frage lautet vielmehr konkret: »Wer bist du?«

Der Mensch als Person ist ausgezeichnet durch ...

Damit aber fragt man nach der Person eines Menschen. Denn um der Tatsache gerecht zu werden, dass er in mehrfacher Hinsicht einzigartig ist, hat der Mensch in unserer Kultur den theologisch–philosophischen Begriff der „Person“ entwickelt — welcher bezeichnenderweise aus dem Ringen um das rechte Gottesbild entstanden ist. Mit dem Personbegriff werden heute zwei verschiedene Dimensionen zugleich angesprochen: Die unaustauschbare Individualität und die von allem Anfang an mitgegebene Relationalität.[5]

Den damals umgangssprachlichen, die Beziehung im sozialen Gefüge bezeichnenden römischen Terminus »persona« holten sich zunächst die Theologen in ihre Fachsprache, als es darum ging, nach den Erfahrungen mit Jesus die Beziehung zwischen ihm, Gott (den er — mit einem Beziehungsbegriff par excellence — seinen Vater nannte) und seinem (Heiligen) Geist näher zu bestimmen. In der Reflexion darüber verwendeten die Kirchenväter, erstmals Tertullian, für ihre Trinitätslehre den Beziehungsbegriff »persona« und formulierten, es sei »ein Gott in drei Personen«, um (gegen die monarchianistische Position einer Vorrangstellung des Vaters) die Gleichheit zu betonen. Damit kennzeichnen den Personbegriff als Fachterminus von Anfang an drei heute noch relevante Tatsachen: Er wurde gebraucht, um eine Erfahrungstatsache näher zu bestimmen, er zielte von Anfang an auf Gleichrangigkeit und er ist ursprünglich ein Beziehungsbegriff.

... Selbständigkeit ...

Im Lauf der theologisch–philosophischen Tradition bildeten sich die bis heute wirksamen beiden Traditionsstränge heraus: Auf der einen Seite der individualistische (oder substantialistische) Personbegriff , der erstmals von Boëthius (480–525) definiert wurde: »Persona est rationalis naturae individua substantia [Person ist die unteilbare Substanz eines vernünftigen Wesens].« Das Wort »Substanz« kommt von »sub–stare«, das wörtlich »von unten her zum Stehen kommen« bedeutet, heißt also Selbststand, Selbstständigkeit, In–sich–selbst–gegründet–Sein und damit Unabhängigkeit — und zwar unteilbar [»in–dividuum«] und auch im letzten nicht mit–teil–bar.  In dieser Tradition stehen unter anderem Thomas von Aquin, die Aufklärung mit der Betonung des Selbstbewusstseins und Kant, der in praktischer Hinsicht Rang und Würde der Person betont, die »nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf«, sondern »Zweck an sich selbst« ist, der Freiheit zukommt und deren Handlungen daher »der Zurechnung fähig sind«. Besonders deutlich wird diese individualistische Dimension in der Existenzphilosophie: Heidegger, Jaspers und Kierkegaard betonen die Verantwortung des Menschen, der sich in der Existenz seines Daseins, in seiner individuellen Einzigartigkeit und Unaustauschbarkeit, in seiner Wahlmöglichkeit und Freiheit selbst erfährt und für den es darum geht, »das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist«[6].

Wer also mit Person ihre Selbstständigkeit und Einzigartigkeit, ihre Freiheit und Würde, ihre Einheit, ihre Souveränität und Selbstbestimmung, ihre Verantwortlichkeit, die von der UNO deklarierten Menschenrechte usw. verbindet, der steht in der Tradition eines solchen individualistischen Personbegriffs. Das ist auch gemeint, wenn der Mensch von der Zeugung an und unabhängig von seiner physischen oder psychischen Gesundheit und Entwicklung als Person bezeichnet wird. Personsein heißt demnach Aus–sich–Sein und Für–sich–Sein.

... und Beziehungsangewiesenheit

Am Beginn des anderen, relationalistischen (oder transzendenten) Traditionsstranges stehen die Kirchenväter. In der Patristik wird Person als Bezogenheit verstanden: Gottes Sein ist Beziehung, »esse ad«, reines Bezogensein. Konstitutiv für das Personsein des Menschen ist nach Augustinus (354–430) die Selbsterkenntnis im selbstüberschreitenden Dialog — und zwar nach innen hin: In ihm erfährt der Mensch, daß Gott ihm näher ist als er sich selbst; er erfährt sich von Gott als Du angesprochen. Richard von St. Viktor († 1173) definiert dann Person als »naturae intellectualis existentia incommunicabilis [unmitteilbare Existenz einer geistigen Natur]«. Person wird hier nicht als Sub–sistenz, sondern als Ek–sistenz verstanden, als von außen her [»ex«], durch andere zu–Stande kommend, als Gegenüber–Stand (und gerade damit unaustauschbar, »incommunicabilis«). Person ist also hier der, der eben durch andere er selbst ist. Konstitutiv für die Person ist demnach ihre Ursprungsbeziehung — wie etwa beim Kind von der Mutter her. Besonders der in Reaktion auf die Systemphilosophie, die Versachlichung des modernen Lebens und das Weltbild der mechanistischen Naturwissenschaften entstandene Personalismus (auch Dialogisches Denken oder Begegnungsphilosophie genannt) betont, dass vor der Person das Subjekt–Objekt–Denken Halt machen muss. Allen voran Martin Buber betont nachhaltig die dialogische Existenz des Menschen: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«[7] Die fundamentale Tatsache der Existenz ist »der Mensch mit dem Menschen«; »Person erscheint, indem sie zu anderen in Beziehung tritt.«[8]. Die »Ich–Du–Beziehung« des Dialogs steht bei Buber dem objektivierenden »Ich–Es–Verhältnis« gegenüber. Noch radikaler fasst Emmanuel Levinas (1905–1995), der »Denker des Anderen«[9], die Beziehungsbedingtheit der Person: Grundlage des Selbststbewusstseins ist nicht die Reflexion (des Ich am Du), sondern die schon jeweils vorgegebene Beziehungserfahrung (also »Du–Ich« statt »Ich–Du«). Der Andere ist damit nicht ein Alter ego, sondern bleibendes Rätsel und damit ständige Herausforderung. Er »sucht uns heim«, wofür Levinas die Metapher »Antlitz [visage]« verwendet. Dieses Antlitz spricht uns an, und seine Not fordert uns heraus. Deshalb steht am Anfang aller Philosophie die Ethik, ist Verantwortlichkeit — Levinas nennt sie »Diakonie [Dienst]«, die jedem Dialog vorausgeht — die Grund­kategorie des Personseins: Aus der Begegnung erwächst die Verpflichtung zur Antwort. (Was den Menschen als Person auszeichnet, ist also, um es mit einem Wortspiel von Perls auszudrücken, seine »re­spons(e)–ability«, sein Vermögen zur Antwort und die daraus erwachsende Verpflichtung.) Levinas bleibt auch nicht wie Buber bei der Zweiheit des Ich–Du stehen; denn es gibt nicht nur ein Du, es gibt den Anderen immer nur in der (wenigstens potentiellen) Gegenwart des Dritten, woraus folgt, daß Handeln sich nicht mehr von selbst versteht und sich der Spielraum der Freiheit öffnet. Es gibt also die Anderen, und damit wird statt der Dyade, dem Paar, Ich und Du, nun die Drei–Einigkeit, die Gruppe, »Wir« das Grundelement von Interpersonalität. Liebe wird zur Mit–Liebe [condilectio], wo von zweien ein Dritter einträchtig geliebt wird.

Wer also Person von der Beziehung her versteht, aus der Partnerschaft, aus dem Dialog, aus der Verbindung zur Welt, von ihrer Angewiesenheit auf andere her, wer sie im Ganzen der Gemeinschaft sieht, wer betont, Person sei der Mensch, insofern er zu anderen in Beziehung steht, der steht in der Tradition des relationalistischen Personbegriffs. Personsein heißt demnach Aus– und In–Beziehung–Sein, Von–anderen–her–Sein.

Souveränität und Engagement

Im substantialistischen wie im relationalistischen Personverständnis liegen wichtige Ansätze, »hinter« die ein heutiges Verständnis nicht zurück kann. Bei aller prinzipiellen Unvereinbarkeit ist es gerade die dialektische Spannung zwischen beiden, die den heutigen Personbegriff kennzeichnet: Das an der Substanz orientierte Verständnis streicht die Selbständigkeit der Person, ihre Fähigkeit, sich selbst zu verstehen, zu besitzen und frei zu vollziehen, hervor. Das auf Relationalität zielende Verständnis verweist beim Menschen auf die dialogische Situation dessen, der als Ich zu sich selbst kommt, weil er als Du angesprochen ist und seine Erfüllung im Wir findet. Personales Sein entsteht und vollzieht sich im personalen Gegenüber der Begegnung. Der Mensch ist von Anfang an Person als Individuum, und er ist von Anfang an auf die personale Gemeinschaft mit anderen bezogen und angewiesen. Erst durch die Beziehung zu anderen Personen entfaltet und verwirklicht er dieses Person–Sein: Er wird Persönlichkeit. Zur Person gehören Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit, Souveränität und Engagement, Autonomie und Solidarität. Beides kommt dem Menschen von Anfang an zu und beides muee er lernen. Oder er verkümmert in beidem. Ein so aus der Beziehung und aus der Erfahrung gewonnener Personbegriff steht ebenso im Kontrast zu einem individualistisch–privatistischen wie zu einem kollektivistischen Menschenbild.

Person als Antwort

Die Erfahrung des Menschen über sein Menschsein und Menschwerden von allem Anfang, vom Ursprung der Entwicklung an, zeigt, dass sich der Mensch bereits als Neugeborener, ja als Ungeborener, als ein Angesprochener vorfindet — noch bevor er selbst sprechen kann; als Du, noch bevor er Ich sagen kann; als »Geliebter«, noch bevor er »lieben« kann. Die Ursituation des Menschen ist dialogisch. Person kann demnach als Antwort in einer Kommunikation gesehen werden, in die der Mensch hineingeboren wird. Hier, an der Erfahrung, setzt auch die ethische Dimension an: Aus der Antwort–Situation des Menschen entspringt seine Ver–antwort–ung. Damit ergibt sich ein Verständnis von Person als relationaler Werde–Identität:

Der Mensch als Person ist — (entwicklungs)psychologisch[10] gesprochen — aus der Kommunikation heraus, was er ist. Er bezieht seine unverwechselbare Selbständigkeit aus der liebenden Begegnung durch seine Eltern oder andere Bezugspersonen, die ihn selbst zu einem Liebenden und Begegnenden werden lässt.

Der Mensch als Person ist — philosophisch gesprochen — Ant–Wort auf ihm zugesprochenes Wort. Und darin liegt auch seine Verantwortlichkeit, bedingt durch seine Freiheit und seine Mitmenschlichkeit, die sich in der Geschichte vollzieht: Durch immer weitere Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft der Menschen, das heißt Verwirklichung des Personseins, wird die Person, was sie ist.

Der Mensch als Person ist — theologisch gesprochen — Antwort auf das in der Geschichte gesprochene Wort des sein Dasein, ja sein Mit–Sein zusagenden, sich als Jahwe (= »Ich bin, der ich für euch da bin«, Exodus 3) offenbarenden »Gottes–mit–uns« (= »Immanuel«, Jes 7,14), eines Gottes der Beziehung und Erfahrung, der mit dem Menschen im Dialog steht — ein Dialog, aus dem heraus er zu den anderen Menschen als Mit–Menschen in Beziehung treten kann.

Man kann nicht vom Menschen sprechen, ohne zugleich über seine Beziehung zu Gott zu sprechen
Beziehung in christlich–theologischer Sicht

Angeregt wurde das Philosophieren über den Menschen als Person durch eine historische Erfahrung: Die Erfahrung in der Beziehung und aus der Beziehung zu Jesus, der sich selbst ausschließlich aus der Beziehung — zu Gott, den er intim seinen Vater nannte — verstanden hat. Aus der Erfahrung mit Jesus und seinem Wort in seinem Geist und aus der daraus entstandenen Reflexion entwickelte der Mensch ein neues Selbstverständnis.

Diese Erfahrungstatsache hat das Christentum ganz radikal ernst genommen und daraus auch sein — trinitarisches, also beziehungsorientiertes — Gottesbild entwickelt. Oder man kann es theologisch auch umgekehrt sagen: In der Offenbarung Gottes als eines, der in seinem Wesen Beziehung ist, hat der Mensch zutiefst sein eigenes Wesen erkannt: Er lebt nicht nur in Beziehungen; er ist Beziehung.

Kern– und Angelpunkt dieses erfahrungsorientierten Ansatzes ist Jesus Christus, der, als er anfing, vom Reich Gottes zu reden, zuallererst Gruppen bildete. In ihnen lebte er und sprach von seiner in seiner Beziehung zu Gott gründenden Botschaft: Die Beziehung Gottes zu den Menschen und daher die Beziehung der Menschen untereinander. Theologische Reflexion brachte es auf den Punkt mit den Worten: „Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott [...]. Denn Gott ist die Liebe.“ (1 Joh 4,7f) Hier ist der dem jüdisch–christlichen Verständnis spezifische untrennbare Zusammenhang zwischen Menschenbild und Gottesbild auf den Punkt gebracht: Die Beziehung zu Gott und die Beziehung zu Menschen ist untrennbar verbunden (vgl. das Gleichnis vom Weltgericht, Mt 25), die Beziehung zu den anderen und die Beziehung zu sich selbst ebenso (vgl. das Gebot der Nächstenliebe, Mt 22,39). Und sie sind Beziehungen nach dem Bild Gottes, der selbst Beziehung ist, in Beziehung zu den Menschen tritt und unter den Menschen Beziehung stiftet.

Es ist der Kirche aufgetragen, jene Communio zu sein, in der diese Erfahrung tradiert und wieder neu gemacht werden kann. So kann die Kirche als Sakrament der Beziehung verstanden werden, und Seelsorge muß als beziehungsstiftende und –fördernde Aufgabe begriffen werden — ein Ansatz, der die Einzelseelsorge ebenso wie die Gemeindeseelsorge betrifft.

Hier ist in praktisch–theologischer Hinsicht ein weiteres Mal auf die Bedeutung der Gruppe für das Selbstverständnis und die Entwicklung des Menschen einerseits, sein Gottesbild und die Entwicklung seiner Gottesbeziehung andererseits hinzuweisen.[11]

Anmerkungen

[1] Chronik des Salimbene, vgl. R. Guardini, Welt und Person, Würzburg 1939, 41955, 139.

[2] J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, Werke, Bd. III, 39.

[3] Z. B. D. Stern, Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt, München 1990; M. Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt/M. 1993.

[4] F. Klostermann, Wie wird unsere Pfarrei eine Gemeinde?, Wien 1979, 15.

[5] Ausführlich zum Personbegriff (Belege) vgl. P. F. Schmid, Souveränität und Engagement. Zu einem personzentrierten Verständnis von »Person«, in: C. Rogers – P. F. Schmid, Person–zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis, Mainz 31998; ders., Im Anfang ist Gemeinschaft. Personzentrierte Gruppenarbeit in Seelsorge und Praktischer Theologie. Beiträge zu einer Theologie der Gruppe, erscheint Stuttgart 1998. Vgl. zum Folgenden: Ders., Vom Individuum zur Person. Zur Anthropologie in der Psychotherapie und zu den philosophischen Grundlagen des Personzentrierten Ansatzes, in: Psychotherapie Forum 5 (1997) 191–202.

[6] S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, orig. 1849; zit. n. d. Ausg. Jena 21924. Orig. 1849, 17.

[7] M. Buber, Ich und Du, orig. 1923, zit. n. Heidelberg 81974, 18.

[8] Ders., Das Problem des Menschen, orig. 1948, zit. n. Heidelberg 51982, 164.

[9] W. Krewani, Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen, Freiburg 1992. — Zu Levinas (Belege) vgl. P. F. Schmid, Solidarität und Autonomie. Personzentrierte Gruppenpsychotherapie, Köln 1994; ders. Begegnung von Person zu Person: Zur Beziehungstheorie und zur Weiterentwicklung der Personzentrierten Psychotherapie in: Psychotherapie Forum 6 (1998) 20–32.

[10] Hat schon die Philosophie lange gebraucht, bis ihr der Mensch als wirklich fragwürdig erschien, so hat die aus ihr entstan­dene Psychologie in ihrem Mainstream diesen Paradigmen­wechsel bis heute nicht wirklich vollzogen, ja sie ist mit apersona­len Modellen teilweise hinter das bereits erreichte humanistische Paradigma wieder zurückgefallen. Dieses geht davon aus, dass eine dem »Gegenstand« Mensch angemessene Disziplin auch ein eigenes Wissenschaftsverständnis, eine eigene Metho­do­lo­gie und eine eigene Weise der Forschung voraussetzt. Viele psychotherapeutische Schulen sahen und sehen hingegen weitgehend immer noch oder schon wieder ihre Aufgabe in einem objektivierenden Zugang, beispielsweise im Diagnostizieren und Inter­pretieren. Überall dort, wo die Bedeutung der Beziehung jedoch zentral wird (und Beziehung nicht bloß als Voraus­set­zung für die eigentliche therapeutische Arbeit oder als Mittel zum Zweck missverstanden und missbraucht wird), wird der beschrie­bene Paradigmenwechsel zu einem Verständnis von Psychotherapie als dialogischem, personalem Geschehen deutlich.

[11] Vgl. dazu den Artikel „Die Gruppe als Ort der Theologie“ in diesem Heft.


Artikelübersicht
     
Hauptseite   Zum Seitenanfang