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Artikel Psychotherapie |
Peter F.
Schmid |
Adaptierte
Fassung des Kapitels 3.1.1
aus
Peter F. Schmid, Personale
Begegnung, Würzburg (Echter), 2. Aufl. 1995, 76-90
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Contents
Zusammenfassung | Abstract, Stichwörter |
Keywords
Text | Article
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References
Überblick
"... Menschen wirklich nahezukommen ..."
"... Fragen über den Sinn des Lebens ..."
"... den emotionalen Aspekten viel größere Beachtung schenken ..."
"... dass der Mensch seine Fähigkeiten herausfinden könne ..."
"... ich begann, mehr und mehr von meinen eigenen Gefühlen zum Ausdruck zu bringen ..."
"... die Fähigkeit, ein Risiko einzugehen ... nicht defensiv zu sein ..."
"... zu einer humaneren, mehr personzentrierten Welt ..."
"... viele meiner Ziele waren vielleicht die Ziele spiritueller Menschen über die Zeiten hinweg ..."
Zusammenfassung, Stichwörter
Kurze Beschreibung der Vita von Carl Rogers inkl. seiner wichtigsten Werke.
"... Menschen wirklich nahezukommen ..."
Der Sohn praktischer, erdverbundener, hart arbeitender Eltern mit einer festen religiösen Einstellung - wie er sich selbst beschrieb - wurde am 8. Januar 1902 in Oak Park, einem Vorort von Chicago als viertes von insgesamt sechs Kindern geboren. Seine Erziehung bezeichnete er als gekennzeichnet "durch enge Familienbindungen" und "eine strenge und kompromißlose religiöse und ethische Atmosphäre und etwas, das auf eine Verehrung des Wertes der schweren Arbeit
hinauslief" (Rogers 1961a, 21).
"Wenn ich zurückschaue", schreibt er später, "wird mir deutlich,
dass mein Interesse an Gesprächsführung
und Therapie sicher zum Teil aus meiner frühen Einsamkeit erwuchs. Hier war ein gesellschaftlich gebilligter Weg, Menschen wirklich
nahezukommen. Er stillte einen Teil des Hungers, den ich zweifellos gefühlt hatte. Auch bot er mir die Möglichkeit, Nähe zu finden, ohne den (für mich) langen und schmerzlichen
Prozess des allmählichen Bekanntwerdens durchmachen zu
müssen." (Ders. 1973b, 14)
Viele der Menschen, die Carl Rogers später begegnet sind, haben ihn als einen Menschen beschrieben, der außerordentlich gut zuhören kann. Auch das hat er rückblickend auf ähnliche Motive zurückgeführt: Es sei eine "Freude, wenn ich wirklich jemanden hören kann.
[...] Ich kann diese Eigenschaft bis in meine erste Grundschulzeit zurückverfolgen. Wenn ein Kind dem Lehrer eine Frage stellte und der Lehrer zwar eine perfekte und gute Antwort gab, die aber zu einer ganz anderen Frage gehörte, bekümmerte und schmerzte mich das
jedesmal. [...] ich glaube, ich weiß, warum [...]. Wenn ich wirklich jemanden hören kann, bringt es mich mit ihm in Kontakt. Es bereichert mein Leben. Dadurch,
dass ich Leuten wirklich zuhörte, habe ich all das gelernt, was ich über Menschen, über die Person, über Psychotherapie und interpersonelle Beziehungen
weiß." (Ders. 1969a, 214)
Mit 12 Jahren zog die Familie auf eine Farm des Mittelwestens. In Carl, der kaum anderen sozialen Kontakt als den in seiner Familie hatte, ließ das den Wunsch aufkommen, Agrarwissenschaften zu studieren. Er begann diese Studien 1919 an der Universität von Wisconsin.
"... Fragen über den Sinn des Lebens ..."
Von einer YMCA-Gruppe spricht er als von den ersten Erfahrungen mit befriedigenden Beziehungen außerhalb seiner Familie. Bald wuchs in ihm der Wunsch heran, sein Leben in den kirchlichen Dienst zu stellen: "Ich bin sicherer als je zuvor,
dass ich meine Arbeit in den Dienst des Christen tums stellen will, und ich bin ziemlich überzeugt davon,
dass es darauf hinausläuft, ein Amtsträger zu
werden." (Burton 1972, 21; Übers. pfs) Er wechselte zu Geschichte als Hauptfach, weil ihm das dafür eine bessere Voraussetzung zu sein schien.
In einer Arbeit über Martin Luther schrieb er die Sätze: "Es ist falsch zu töten, sei es durch
Hass, sei es durch Angst. Krieg kann nicht mit Liebe in Einklang gebracht werden, dem zentralen Grundsatz der Lehre Jesu. Es ist nicht möglich,
dass die Liebe ein Motiv für den Krieg sein kann. Die beste Verteidigung ist nicht ein militärischer Angriff, sondern der Widerstand der Liebe und der
Geduld." (Kirschenbaum 1979, 33)
1922 fuhr er zu einem internationalen christlichen Studententreffen nach China, was für ihn eine gewaltige Erweiterung seines Horizonts bedeutete.
Nach seiner Graduierung 1924 heiratete er seine Frau Helen, eine Kunststudentin, und trat in das Union Theological Seminary in New York City ein, das er wählte, weil es ihm liberal und in intellektueller Hinsicht führend zu sein schien. Im Sommer 1925 arbeitete er im Seelsorgsdienst in East
Dorset, Vermont, als Teil seiner praktischen Ausbildung. Über die Erfahrung dort scheibt er unter anderem,
dass es ihm einfach nicht möglich war, länger als 20 Minuten zu predigen, was ihn verwirrte, wofür ihm seine Gemeinde aber zweifellos dankbar war.
Im zweiten Jahr seiner Seminarzeit besuchte er Kurse in Klinischer Psychologie an der Columbia University und begann, auch mit Kindern zu arbeiten. Unterstützt von der Seminarleitung veranstaltete er gemeinsam mit Kollegen ein Seminar, in dem es keinen
"instructor" geben sollte und für das "der Lehrplan nur durch unsere Fragestellungen zusammengestellt" werden sollte. Er erlebte dieses Seminar als "zutiefst befriedigend und klärend. Es brachte mich ein weites Stück zu meiner eigenen Lebensphilosophie. Die Mehrheit der Gruppenmitglieder kam durch die Auseinandersetzungen mit den Fragestellungen, die sie selbst aufgebracht hatten, dazu, geradewegs aus der religiösen Arbeit wegzugehen. Ich war einer
davon." (Ebd. 51)
"Dass die Fragen über den Sinn des Lebens und die Möglichkeit einer konstruktiven Verbesserung des Lebens der einzelnen mich wahrscheinlich immer interessieren würden, kannte ich. Ich konnte jedoch nicht in einem Bereich arbeiten, in dem man immer von mir verlangen würde, an eine bestimmte religiöse Doktrin zu glauben.
[...] Deshalb wollte ich einen Arbeitsbereich finden, der mir die Freiheit der Gedanken ließ." (Rogers
1961a, 24)
Später bezeichnete er die protestantische Tradition, in der er aufgewachsen war, mit ihrer Überzeugung von der grundlegenden Verderbtheit der menschlichen Natur als besonders ausschlaggebend für sein Absetzen von diesem Glauben. "Religion, vor allem die protestantische christliche Tradition, hat unsere Kultur mit der Grundansicht durchdrungen,
dass der Mensch im Wesen sündhaft ist, und dass sich seine sündhafte Natur nur durch etwas, was einem Wunder nahekommt, negieren läßt."9
(Ebd. 100) Seine späteren Ansichten über die grundsätzliche Vertrauenswürdigkeit des menschlichen Organismus verstand er auch als diesem Weltbild geradezu diametral entgegengesetzt.
Konsequenterweise wechselte er 1926 mit 24 Jahren auf das Teachers College der Columbia University, um Klinische und Erziehungspsychologie zu studieren.
"... den emotionalen Aspekten viel größere Beachtung schenken ..."
Im gleichen Jahr wurde Helens und Carls erstes Kind, David, geboren, das sie streng nach behavioristischen Kriterien zu erziehen sich vornahmen. "Glücklicherweise hatte Helen genug Hausverstand, eine gute Mutter zu sein trotz all dieses zerstörerischen psychologischen
'Wissens'." (Kirschenbaum 1979, 44)
In den Folgejahren verspürte er stark die Diskrepanz zwischen dem vorwiegend statisch und
messtechnisch ausgerichteten Studium und seiner klinischen Praxiserfahrung am Institute for Child Guidance, an dem er arbeitete. Für seine Dissertation entwickelte er einen (später ungewöhnlich populären und erfolgreichen) entwicklungspsychologischen Test, mit dem er schließlich 1931 das Doktorat erwarb.
1928 zog er mit seiner Familie nach Rochester im Bundesstaat New York, wo im gleichen Jahr seine Tochter, Natalie, geboren wurde und wo er bis 1939 als Psychologe für das Child Study Departement of the Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children und später als Direktor des Rochester Guidance Center arbeitete.
In diesen Jahren experimentierte er mit den verschiedensten psychologischen Methoden, wobei er sich besonders für ihre Effektivität interessierte. Er begann sich mit Otto Rank, einem Psychoanalytiker und Freud-Schüler, zu beschäftigen. Nachdem er ihn zu einem Wochenendseminar eingeladen hatte, begann er vor allem seine Praxis, weniger seine Theorien zu schätzen. Rogers ließ sich von ihm und einigen seiner in der Sozialarbeit tätigen Schülern ziemlich
beeinflussen.
Viel von seinen Ansichten wird verständlich aus seiner Auseinandersetzung mit der traditionellen Psychiatrie und der Psychonanalyse sowie aus seiner Gegenposition zur damals modernen und allgemein verbreiteten Verhaltenspsychologie, deren mechanistische Auffassungen er mehr und mehr
ablehnte.
1939 erschien sein erstes Buch ("The clinical treatment of the problem child",
1939a), in dem sich bereits erste Wurzeln der später ausformulierten Basis-Bedingungen therapeutisch hilfreichen Verhaltens finden.
Von der Arbeit in Rochester erzählte er gern ein Schlüsselerlebnis: Mit der intelligenten Mutter eines "schwierigen" Kindes kam er in der Therapie nicht weiter; er
wusste zwar genau, dass das Problem in der frühen Ablehnung des Kindes lag, aber er vermochte ihr das nicht zu vermitteln, wie behutsam und geduldig er dabei auch immer vorging. Da
entschloss er sich, die Therapie zu beenden. Sie war einverstanden, fragte aber unter der Tür beim Hinausgehen, ob er eigentlich auch Erwachsene berate. Als er zustimmte, sagte sie: "Also, ich brauche Hilfe" - und sie begann eruptiv über ihre Verzweiflung in ihrer Ehe und ihr Gefühl des Versagens zu reden. Die Therapie "setzte in diesem Moment ein und führte schließlich zum Erfolg". So entdeckte er, "dass der Klient derjenige ist, der weiß, wo der Schuh drückt, welche Richtungen einzuschlagen und welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief begraben"
sind (Rogers 1961a, 25f; vgl. ders. 1973b, 191f). Und er entdeckte - so erzählte er -,
dass seine Aufrichtigkeit eine entscheidende Rolle gespielt hatte, eine viel entscheidendere als seine Professionalität.
1939 wurde Rogers zum Professor am Psychologischen Institut der Ohio State University berufen, an der er 1940 das erste je an einer Universität gehaltene Praktikum in supervidierter Therapie veranstaltete. Seine Lehrtätigkeit führte ihn nun mehr und mehr dazu, seine psychologischen Überzeugungen aufgrund seiner Erfahrungen in seinen eigenen Worten zu formulieren. Eine Rede am 11. Dezember 1940 in der Universität von Minnesota mit dem Titel "Neuere Konzepte der Psychotherapie" bezeichnete er später gern als das Geburtsdatum der
Klientenzentrierten Psychotherapie. Er behauptete darin, die Ziele dieser neuen Psychotherapie seien nicht die Lösung einzelner Probleme, sondern die Unterstützung des einzelnen in seiner Entwicklung ("growth"). Dabei sei den emotionalen Aspekten viel größere Beachtung zu schenken als den intellektuellen, und die Gegenwart sei viel wichtiger als die Vergangenheit. Schließlich lege dieser Ansatz größten Wert auf die therapeutische Beziehung selbst als Erfahrung von Wachstum ("growth experience").
(Kirschenbaum 1979, 113) Überrascht von heftiger Zustimmung und ebensolchem Widerspruch seiner Zuhörer schätzte er dies als Reaktionen auf die Tatsache ein,
dass er hier nicht Theorien zusammenfasste, sondern seiner persönlichen Überzeugung Ausdruck verlieh.
1942 kam sein erstes Buch über seinen neuen psychotherapeutischen Ansatz heraus,
"Counseling and Psychotherapy" (deutsch: "Die nicht-direktive
Beratung", 1942a), das auch mit dem Fall Herbert Bryan die erste vollständige Publikation einer Therapie enthält. Das Buch fand in der psychologischen Öffentlichkeit zunächst wenig Resonanz.
In den Kriegsjahren 1944-45 arbeitete Rogers in New York City in der Ausbildung für Personen, die in der psychologischen Betreuung heimkehrender Kriegsteilnehmer tätig
waren. (Vgl. ders. 1944a)
"... dass der Mensch seine Fähigkeiten herausfinden könne ..."
Nach einer Gastprofessur an der University of Chicago wurde Rogers auf Dauer dorthin berufen und eingeladen, ein Beratungszentrum zu gründen. Diese Zeit erschien ihm als besonders fruchtbar für die Entwicklung seiner Arbeit, seines Denkens und seines Stils der Zusammenarbeit mit Kollegen. 1951 erschien das Buch
"Client-centered Therapy" (deutsch: "Die klient-bezogene
Gesprächstherapie", 1951a), in dem er, im Gegensatz zum damals üblichen Stil in der dritten Person, so persönlich wie möglich zu schreiben versuchte.
Zusammen mit Rosalind Dymond publizierte er 1954 Forschungsergebnisse über die
Klientenzentrierte Psychotherapie unter dem Titel "Psychotherapy and
Personality Change" (Rogers/Dymond 1954), womit er großen Anklang in der wissenschaftlichen Welt fand und 1956 einen Preis der American Psychological Association erhielt.
Im gleichen Jahr formulierte und 1957 veröffentlichte er
"The necessary and sufficient conditions of psychotherapeutic personality change"
(1957a), in denen erstmals auch die Kongruenz (Echtheit) als wesentliche Bedingung aufscheint. Dieser Artikel bildete die Grundlage für eine Unzahl weltweiter Forschungshypothesen und -arbeiten in den folgenden Jahren.
Rogers engagierte sich in den Auseinandersetzungen, ob Psychologen von der Psychotherapie auszuschließen seien, die in den 30er- und 40er-Jahren in den USA geführt wurden. "Eine Kontroverse entstand daraus,
dass ich soviel Vertrauen in das Individuum setzte. Diese Tatsache tangierte das Selbstverständnis vieler Therapeuten und wurde als Bedrohung
aufgefasst. Meine Schriften
[...] stürzten viele Psychologen und Psychiater in Verwirrung. Ich behauptete,
dass der Mensch selbst seine Fähigkeiten und seine Fehlanpassungen herausfinden könne
[... .] Diese Ansicht ist bedrohlich für Leute, die sich für Experten halten.
[...] Es gab viele Angriffe gegen mich und auch Witze, in denen behauptet wurde, alles, was ich täte, wäre, mit den Klienten einer Meinung zu
sein." (Ders. 1976b, 27)
Insgesamt hatte er in diesen Jahren seine Ansichten von einem nicht-direktiven zu einem
Klienten-zentrierten Ansatz entwickelt: In den Mittelpunkt seines Interesses rückte immer mehr der Klient als Person und immer weniger die psychotherapeutische "Methode".
Die Entwicklung in den Folgejahren nannte er später eine vom
Klienten-zentrierten zu einem Person-zentrierten Ansatz - einerseits, weil die Bedeutung der Person des Therapeuten und damit die Beziehung (es findet sich aus dieser Zeit auch mehrfach der Ausdruck
"Beziehungs-zentriert") zwischen den beiden immer stärker in den Blick kam, andererseits weil es sich aufdrängte, die Grundsätze von der psychotherapeutischen Situation auf andere Gebiete zu
übertragen.
"... ich begann, mehr und mehr von meinen eigenen Gefühlen zum Ausdruck zu bringen ..."
1957 wurde Rogers an der University von Wisconsin eine Arbeit angeboten, deren Aufgabenstellung er selbst formuliert hatte und die er als eine große Herausforderung und als Möglichkeit sah,
Einfluss zu gewinnen. Bei dieser Gelegenheit sollte er Zeit zu Forschung und Zusammenarbeit mit Psychiatern und zur Arbeit auch mit Psychotikern haben.
Rogers setzte in Wisconsin ein umfassendes Forschungsprojekt in der Psychotherapie mit Schizophrenen in Gang ("The
Therapeutic Relationship and its Impact", publiziert gemeinsam
mit Gendlin, Kiesler und Truax 1967). Mit schwer gestörten Personen hatte er bislang kaum gearbeitet. Dabei stellte sich nun heraus,
dass die Therapeuten viel kreativer und aktiver bei der Kontaktaufnahme mit diesen Menschen sein
mussten, um eine Beziehung herstellen zu können. Sie brachten ihre eigenen Gefühle viel mehr zur Sprache als dies zuvor geschehen war - eine Tatsache, die die weitere Entwicklung des
Personzentrierten Ansatzes wesentlich beeinflussen sollte.
"Eins der Dinge, die wir in Wisconsin herausfanden, war: Wenn ich etwas audrückte, was ich fühlte, so war es wahrscheinlich,
dass die andere Person antwortete. Das war keine Garantie, aber ich erinnere mich,
dass ich über Stunden mit einem Mann zusammensaß, der oft einen großen Teil der Stunde still war - und so prüfte ich meine Gefühle.
[...] Nun, als ich begann, mehr und mehr von meinen eigenen Gefühlen zum Ausdruck zu bringen, kam es dazu,
dass ich manchmal eine Antwort von ihm bekam. Ich habe keine magische Formel dafür, doch ich habe den Eindruck,
dass es manchmal hilft, die Gefühle der anderen Person hervorzubringen, wenn man die eigenen Gefühle
ausdrückt." (Ders. V.1981b; Übers. pfs;
vgl. ders. 1983j, 26f)
Die Arbeit mit den Psychotikern und Schwierigkeiten und Fehler bei der Organisation der Forschergruppe belasteten Rogers stark. Eine Weile ging er selbst in Therapie. Das Leben in Madison am Monona-See erlebte die Familie dagegen als sehr befriedigend und glücklich.
1963 beendet er seine Arbeit am Psychological Department - er war mit den Verhältnissen zunehmend unzufrieden geworden -, arbeitete aber am Wisconsin Psychiatric Institute weiter.
"On Becoming a Person", Rogers' wohl
einflussreichstes Buch und nach eigenen Aussagen sein liebstes, erschien 1961 (deutsch:
"Die Entwicklung der Persönlichkeit",
1961a). Darin geht er in einer Reihe seiner wichtigsten Artikel ausführlich auf den
Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und auf Anwendungsgebiete des
Personzentrierten Ansatzes ein.
"... die Fähigkeit, ein Risiko einzugehen ... nicht defensiv zu sein ..."
Anfang 1964 nahm Rogers schließlich eine Einladung an,
am neugegründeten Western Behavioral Science Institute (WBSI) mitzuarbeiten und zog nach La Jolla, einem nördlichen Vorort von San Diego in Kalifornien. Er empfand die Arbeit dort, frei von den Einschränkungen, die der Universitätsbetrieb mit sich gebrachte hatte, sehr zufriedenstellend und konstruktiv.
Inzwischen wendete er sich intensiv der Arbeit mit Encounter-Gruppen (wörtlich
"Begegnungsgruppen") zu, was ihm einerseits enorme Berühmheit auch über Fachkreise hinaus verschaffte, andererseits ein weiterer wichtiger Beitrag zur Entwickung des
Personzentrierten Ansatzes war: In der Begegnung mit der "Normalpopulation", die in solche Selbsterfahrungsgruppen kam, entstand sein Konzept von "Leiter"-Verhalten. Ein viel beachteter Film
("Journey into self", F-1968) wurde gedreht und das Buch über Encounter-Gruppen (1970,
"Carl Rogers on Encounter Groups", deutsch:
"Encounter-Gruppen", 1970a) publiziert.
Auch hier findet sich wieder das Thema der Überwindung von Einsamkeit: "Die einsame Person ist zutiefst davon überzeugt,
dass man sie nicht mehr akzeptiert oder liebt, wenn ihr wahres Selbst bekannt wird. Es gehört zu den faszinierendsten Augenblicken im Leben einer Gruppe, wenn man sieht, wie diese Überzeugung langsam schwindet. Die Feststellung,
dass eine ganze Gruppe von Leuten es viel einfacher findet, sich um das wahre Selbst statt um die äußere Fassade zu kümmern, ist nicht nur für die betreffende Person, sondern auch für die übrigen Gruppenmitglieder eine bewegende Erfahrung."
(Ders. 1961a, 120) "Die Fähigkeit, ein Risiko einzugehen, gehört zu den Dingen, die ich selbst in Encounter-Gruppen gelernt habe.
[...] Und wenn ich nicht versuche, anders zu sein, als ich bin
[...], dann komme ich den Leuten viel näher. [...] Ich genieße das
Leben deshalb viel mehr, wenn ich nicht defensiv
bin." (Ders. 1961a, 119f) Seine Verwandten und Freunde sprachen von großen Veränderungen durch die Gruppenerfahrungen auch an ihm selbst: "Er zeigte viel mehr von sich selbst, wurde viel offener über sein Bedürfnisse nach Zuneigung und danach, selbst viel herzlicher zu
sein." (Kirschenbaum 1979, 495)
Nach Entwicklungen am WBSI, die den humanistisch orientierten Mitgliedern nicht gefielen, gründeten diese 1968 das "Center for Studies of the Person" (CSP) in La Jolla, dem Carl Rogers als "Resident Fellow" (eine selbstgewählte Bezeichnung) bis zu seinem Tod angehörte. Es war eine Gruppe von anfangs etwa 40 Personen aus verschiedenen human- und sozial wissenschaftlichen Bereichen, die der herkömmlichen Art, menschliches Verhalten nach der Art von Objekten zu studieren, den
Personzentrierten Ansatz entgegensetzten. Sie trafen einander zu wöchentlichen staff meetings und hielten die Organisation auf einem möglichst informellen, dem einzelnen einen maximalen Spielraum ermöglichenden Niveau. Rogers beurteilte das Center selbst als "ein höchst ungewöhnliches und aufregendes Experiment". Er war der Überzeugung,
dass diese "Nicht-Organisation" "ausschließlich auf der Stärke interpersonaler Teilnahme" gründete. "Uns hält nichts zusammen, als das gemeinsame Interesse an der Würde und der Fähigkeit der Personen und die ständige Möglichkeit echter Kommunikation."
Als Zusammenfassung seiner bisherigen Ideen und Arbeiten zum Thema Erziehung, die im Lauf der Zeit entstanden waren, und auf Drängen vieler Pädagogen erschien 1969 Rogers' Buch über personzentriertes Lehren und Lernen.
("Freedom to learn", deutsch: "Lernen in
Freiheit", 1969a)
1972 erhielt Rogers den Distinguished Professional Contribution Award und somit als bislang
Einziger beide Auszeichnungen der American Psychological Association.
Im selben Jahr brachte er ein Buch über Partnerbeziehungen heraus.
("Becoming partners: Marriage and its
alternatives", deutsch: "Partnerschule",
1972a). Darin schrieb er über seine eigene Ehe: "Helen und ich wundern uns häufig, wie fruchtbar unser Zusammenleben immer noch ist und warum ausgerechnet wir so viel Glück gehabt haben.
[...] Jeder von uns hatte sein eigenes Leben und eigene Interessen nd das gemeinsame Leben.
[...] Wir sind als Einzelpersonen gewachsen und gleichzeitig in diesem
Prozess
zusammengewachsen." (Rogers 1973b, 194f)
Als seine Frau später durch Krankheit an den Rollstuhl gefesselt wurde, übernahm er den größten Teil der Pflege. Die lange Krankheit belastete ihn sehr. Aus der Hilflosigkeit und Verzweiflung beider erwuchs, als es ihr vorübergehend besser ging, etliches an wechselseitiger Agression, die er als ein gesundes Zeichen
verstand. (Ders. 1972a, 26,31,32) Seine Frau starb 1979 nach langen Jahren der Krankheit. "Eines Tages, als sie dem Tod sehr nahe war
[...], sprudelte es plötzlich aus mir heraus, wie sehr ich sie geliebt hätte.
[...] Ich sagte ihr, sie solle sich nicht verpflichtet fühlen, weiterzuleben, ihrer Familie gehe es gut und sie könne sich frei fühlen, weiterzuleben oder zu sterben, wie
sie es wünsche. Bei Tagesanbruch lag sie im Koma und am folgenden Morgen starb sie sehr
friedlich." (Kirschenbaum 1979, 417)
Sein eigenes Älterwerden beschrieb er in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel
"Growing older - or older and growing" (1980d, deutsch:
"Alt werden - oder älter werden und
wachsen").
"... zu einer humaneren, mehr personzentrierten Welt ..."
Mehr und mehr faszinierten Rogers die Möglichkeiten der Selbstbestimmung der Person und die Möglichkeiten zur Entwicklung in größeren Gruppen und Gemeinschaften. 1974 begann er, mehrwöchige Workshops mit Großgruppen (von 75 bis zu 800 Personen) zu veranstalten, die mit einem Minimum an Strukturen funktionierten. In seinem
am meisten politischen Buch "On Personal Power: Inner
Strength and Its Revolutionary Impact" (1977a, deutsch:
"Die Kraft des Guten"), in dem er seine Überzeugungen leidenschaftlich und sehr global formulierte, brachte er viel von diesem Optimismus zu Papier. Im
Bewusstsein, "dass diese Vision manchen hoffnungslos idealistisch, anderen als gefährliche Verhöhnung geheiligter Autoritäten und wieder anderen einfach bizarr erscheinen wird", schrieb er am
Schluss dieses Buches: "Ein neuer Menschentypus mit Wertvorstellungen, die sich scharf von denjenigen unserer heutigen Gesellschaft unterscheiden, tritt in immer größerer Zahl auf den Plan.
[...] Auf fast jedem Gebiet ist eine stille Revolution im Gange. Sie verspricht, uns zu einer humaneren, mehr personzentrierten Welt
voranzutragen." (Rogers 1980e, 56f)
1980 publizierte Rogers
"A Way of Being", eine Zusammenfassung der Ansichten und Entwicklungen aus den Siebzigerjahren
(deutsch: "Der neue Mensch", 1980a). Andere Beiträge sind in der deutschen Übersetzung des Sammelbandes
"A pessoa como
centro": "Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit" von
Rogers und Rosenberg, 1977, zu finden). 1983 erschien eine völlig überarbeitete Fassung seines Buches über Lernen
("Freedom to Learn for the 80's", deutsch:
"Freiheit und Engagement", 1983a).
Nach dem Tod seiner Frau reiste Carl Rogers viel. Er nahm an Workshops auf der ganzen Welt, unter anderem auch zweimal auf Einladung der
APG in
Österreich, in Salzburg 1981 und in Drosendorf 1984, teil. 1982 war er Teilnehmer am ersten International Forum on the Person-Centered Approach in Oaxtepec, Mexiko und 1984 am zweiten in Norwich, England.
In seinen letzten 15 Lebensjahren begann sich Rogers mehr und mehr für soziale Fragen und Friedenspolitik zu interessieren und beschäftigte sich mit den politischen Implikationen des
Personzentrierten Ansatzes. Er leitete ein Workshop mit irischen Katholiken und Protestanten. 1985 entstand das Carl Rogers Peace Project und im Herbst des gleichen Jahres leitete er ein Workshop mit zentralamerikanischen Politikern in Rust im Burgenland in Zusammenarbeit mit der University for Peace in Costa
Rica (Rogers 1986d). Bei Workshops in Südafrika 1982 und 1986
(Rogers/Sanford 1983; 1986; Rogers 1986c) engagierte er sich in der Rassenproblematik. Auf verschiedenen Vorträgen setzte er sich mit dem Atomkrieg und seiner Vermeidung auseinander.
Im Herbst 1986 war er noch auf seiner letzten Auslandreise in Moskau und Tiflis bei mehreren Veranstaltungen auf Einladung des sowjetischen
Erziehungsministeriums (Rogers 1987h).
"... viele meiner Ziele waren vielleicht die Ziele spiritueller Menschen über die Zeiten hinweg ..."
In seinen späteren Lebensjahren beschäftigten Rogers wieder zunehmend spirituelle Fragen; auch begann er sich mehr und mehr für die fernöstlichen Weisheitslehren zu interessieren. Bei einem Vortrag während seines Wien-Aufenthaltes 1981 an der Universität Wien gab er seinen "spirituellen Überzeugungen" anhand von Forschungsergebnissen aus Naturwissenschaften Ausdruck und nannte sie auch "mystische Erfahrungen", die ihn an die von ihm bislang unterschätzte Dimension "des Transzendenten" stoßen
lasse. (Rogers 1977a, 280, 323)
Auf Einladung des Praktisch-Theologischen Instituts der Universität Wien fand ein gemeinsames Privatissimum der beiden
Theologischen Fakultäten im gleichen Jahr statt. Dabei sagte er auf meine Frage, ob er eine Verbindung zwischen dem Evangelium und dem
Personzentrierten Ansatz sehe, er habe sein Leben lang vermieden, religiöse Begriffe zu gebrauchen - vermutlich aus zwei Gründen: "Ich glaube
[...], ich fühlte mich wirklich etwas von der organisierten Religion beleidigt, und es liegt mir nichts daran, damit in Verbindung gebracht zu werden; außerdem empfand ich,
dass viele religiöse Begriffe soviel Bedeutungen hatten,
dass ich sie nicht gebrauchen wollte.
[...] Andererseits: während ich an der Universität von Chicago war, fand ich einiges, das mich am meisten anregte und einige meiner besten Studenten waren unter den Theologie-Studenten der Universität, darunter die, die mich auch mit Martin Buber und
Søren Kierkegaard bekanntmachten, und ich merkte, ich hatte Freunde, von denen ich niemals
gewusst hatte. [...] So würde ich sagen, viele meiner Ziele waren vielleicht die Ziele spiritueller Menschen über die Zeiten hinweg. Und irgendwie finde ich mich mehr bereit, den Begriff 'spirituell' als den Begriff 'religiös' zu gebrauchen.
[...,] ja, ich glaube, es gab viele, viele Philosophen und spirituelle Führer, und nicht nur christliche Führer, die die Person als sehr wichtig angesehen haben. So will ich bestimmt den Begriff 'personzentriert' nicht als originale Erfindung
beanspruchen." (Rogers 1979a)
1986 wurde die Association for the Development of the Person-Centered Approach gegründet, an derem ersten Treffen in Chicago Rogers noch teilnahm.
Anfang 1987 wurde er für den Friedensnobelpreis des gleichen Jahres nominiert. Kurz nach seinem 85. Geburtstag stürzte er und brach sich die Hüfte. Er
musste operiert werden, wovon er sich nicht mehr erholte. Am 4. Februar 1987 starb er in La Jolla.
Einer seiner Lieblingssprüche von Lao-tse lautet: "Ein Führer ist am besten, wenn man kaum weiß,
dass es ihn gibt. Nicht so gut, wenn man ihm gehorcht und ihm zujubelt. Am ärgsten, wenn man ihn verachtet.
[...]
Doch von einem guten Führer, der wenig spricht, wenn sein Werk getan ist, sein Ziel erreicht, werden alle sagen: Wir haben es selbst
getan." (Ders. 1973b, 21)
siehe
Die
Carl-Rogers-Bibliografie Online. Alle Belege
zu Rogers beziehen sich darauf.
Weiters:
Burton,
Arthur (Hg.) (1979), Twelve
therapists, San Francisco (Jossey–Bass) 1972
Kirschenbaum, Howard (1979),
On becoming Carl Rogers,
New York (Delacorte) 1979