Artikel Psychotherapie & Theologie  

Peter F. Schmid

"Du sollst dir kein Bild machen"
Zum Stellenwert von Menschenbildern in Psychotherapie und Theologie

Überarbeitete Fassung des Eröffnungsvortrags zur 2. Interdisziplinäre Tagung „Leib & Seele. Menschenbilder und ihre Wirkung“, Innsbruck, Haus der Begegnung, 26. 10. 2000
erschienen in: Posch, Christian / Schuierer, Sissi / Schuierer, Anton J. (Hg.), Menschenbilder und ihre Wirkung. Leib und Seele, Forum interdisziplinär, Band 2, Thaur (Thaur) 2001

Übersicht, Inhalt | Overview, contents
Zusammenfassung, Stichwörter | Abstract, keywords | Resumé
Text | Article
Anmerkungen | Endnotes
Literatur | References

Übersicht, Inhalt

Menschenbilder sind vorläufige Modelle:
Ihre Bedeutung im Leben, in der Psychotherapie und in der Theologie

Zum Menschenbild des Personzentrierten Ansatzes in der Psychotherapie:
Der Mensch als Person in Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit

Zum Gottes– und Menschenbild des Christentums:
Gott als Gemeinschaft — der Mensch als Bild Gottes

Einige Konsequenzen personaler Anthropologie:
Pluralität, Begegnung, Konstruktivismus, Konsistenz

Anspruch und Ver–antwort–ung:
Der Dialog über Menschenbilder als ethische Verpflichtung

Zusammenfassung, Stichwörter

Menschenbilder sind, reflektiert oder unreflektiert, grundlegend für jedwedes menschliche Handeln. Für therapeutisches wie seelsorgliches Handeln sind sie der Maßstab, an dem sich die jeweilige konkrete Praxis messen lassen muss. In einer pluralistischen und von Medien und weltweiter Kommunikation geprägten Gesellschaft stellt sich verschärft die Frage nach der Konsistenz der verschiedenen Bilder vom Menschen, die dabei aufeinander prallen. Das gilt nicht nur zwischen verschiedenen Personen, sondern auch für die verschiedenen Menschenbilder, die jeder für sich in unterschiedlichen Situationen nebeneinander hat. Als Glaubensannahmen entziehen sich Menschenbilder nicht nur der Diskussion, ob sie richtig oder falsch sind, sondern provozieren in der Praxis immer wieder die Auseinandersetzung über den Umgang mit Widersprüchen.

In fünf Schritten werden aus der Perspektive von Psychotherapie und Theologie einige einführende Gedanken zum Thema vorgestellt: Zunächst über die Natur und Bedeutung von Menschenbildern generell, dann Aspekte zum Menschenbild des Personzentrierten Ansatzes, anschließend aus theologischer Sicht Überlegungen zum Gottes– und Menschenbild des Christentums. Für die klinische und seelsorgliche Praxis ergeben sich dabei eine Reihe von Konsequenzen, von denen Pluralität, Begegnung, Konstruktivismus und Konsistenz im Methodenangebot etwas näher erörtert werden. Letztlich erweist sich der Diskurs über Menschenbilder als ethische Fragestellung.[1]

Weitere Stichwörter: 
Personbegriff, Trinität, Gott als Beziehung, Communio/Koinonia

 

Am Anfang soll ein Gedankenexperiment stehen: Angenommen, nach der Notlandung eines Flugzeuges fände sich ein Passagier auf einer Insel wieder, fernab der eigenen Zivilisation, als einziger Überlebender oder einzige Überlebende[2] des Absturzes. Nach kurzer Zeit stellt sich heraus, er müsse dort ein neues Leben beginnen; es gibt kein Zurück nach Hause. Es wäre ein Leben mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen, anders denken, einer anderen Kultur angehören — ein Leben unter ganz anderen Umständen. Alles wäre neu und fremd und „alles“ begänne daher noch einmal von vorne: „ein zweites Leben“. Was würde dort für ein Mensch aus dieser Person werden? Im Prinzip der gleiche noch einmal, der er schon war? Oder ein anderer? Was würde sich ändern, was würde gleich bleiben? Würde er im Wesentlichen, mit äußerlichen Veränderungen zwar, aber grundsätzlich der gleiche Mensch sein, mit denselben oder ähnlichen Eigenschaften? Oder würde sich, weil es ja ein Leben in anderen Beziehungen wäre, aus ihm in einer anderen Umgebung im Grunde etwas ganz anderes entwickeln können, auch wenn es daneben Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mit früher gäbe? Würde er sich so weit verändern, dass man nach einiger Zeit sagen kann: Er ist jemand anderer geworden.

Man kann das auch auf sich selbst anwenden: Was ist es, das es ausmacht, dass ich ich selbst bin? Unverwechselbar so und kein anderer? Was macht es aus, dass man von mir sagen kann, das ist der oder die bestimmte Person? Wäre ich auch unter anderen Umständen diese, dieselbe Person? Bin ich der, der ich bin, im Kern unabhängig von den Beziehungen und unabhängig von der Umgebung? Oder ist es umgekehrt: Sind die Beziehungen so entscheidend, dass in ganz anderen Beziehungen, unter anderen Umständen man mich kaum mehr wieder erkennen würde, vielleicht ich mich auch selbst nicht mehr. Für beides lassen sich jedenfalls gute Argumente finden.

Mit einer solchen Überlegung gerät man mitten in die Frage nach dem Bild vom Menschen allgemein und von sich selbst im Besonderen, näherhin nach dem Verständnis dessen, was es ausmacht, den Menschen als Person zu bezeichnen.

Menschenbilder sind vorläufige Modelle:
Ihre Bedeutung im Leben, in der Psychotherapie und in der Theologie

Bei seinem Handeln geht jeder Mensch reflektiert oder nicht reflektiert von Annahmen darüber aus, was und wie Menschen sind, warum sie so und nicht anders handeln, wie sie sich entwickeln und verändern, wie und warum es zu psychischen Störungen und Leidensprozessen kommt und wie man helfen, oder, allgemeiner gesagt, wie man Menschen beeinflussen kann. Die wissenschaftliche Reflexion darüber findet in der Anthropologie mitsamt der Persönlichkeits– und Entwicklungstheorie, Krankheitslehre und Therapietheorie statt. Aber noch vorwissenschaftlich und die Alltagspraxis begründend hat jeder Mensch eine Vorstellung, ein Bild davon, wie Menschen sind: sein Menschenbild. Dieses bildet die Grundlage seines Handelns. Es wird deutlich in der Reaktion auf den Anruf eines Freundes, zum Beispiel, der sagt „Weißt du, was mir passiert ist ...“ und dann erzählt. Die spontane Reaktion darauf könnte sein: „Warte, wir setzen uns zusammen und trinken einen Kaffee miteinander.“ Oder man antwortet: „Du, mir ist das auch einmal passiert, damals habe ich das und das gemacht.“ Oder: „ Das musst du mir genauer erzählen“. Oder vielleicht: „Geh, mach dir nichts draus! So schlimm ist das doch nicht!“ Gleich wie: Die Reaktion kommt, gerade wenn sie ganz spontan und unreflektiert geschieht, aus irgendeiner zu Grunde liegenden Vorstellung, was in einer solchen Situation hilfreich sein könnte. Und diese Vorstellung beruht auf einer Auffassung, wie Menschen sind, wie Menschen „gebaut“ sind.

Manchem fällt an dieser Stelle vielleicht eine erste Diskrepanz auf, wenn man mitbedenkt, dass zu den Menschen auch jeweils derjenige selbst gehört, der sich die Frage vorlegt. Wir haben auch eine Vorstellung, wie wir selbst sind. Und es könnte einen Unterschied geben zwischen dem, wie man sich selbst sieht und dem, wie man die anderen sieht. (Manche Menschen leben ja nach der Devise: „Grundsätzlich ist es so, nur ich bin eine Ausnahme.“)

Was für privates Handeln gilt, gilt natürlich umso mehr für professionelles Handeln, für die Psychotherapie beispielsweise oder für die Seelsorge. Jeder, der in diesen Bereichen arbeitet, muss sich der Frage stellen, wie er den Menschen versteht, welches Bild er von ihm und seinem „Funktionieren“ hat. Davon hängen dann alle weiteren Konzepte ab, wie zum Beispiel das einer Leidens– und Therapietheorie oder ein Pastoralkonzept und dementsprechend auch die Vorstellung von Therapie, Hilfe, Begleitung oder Seelsorge generell.

Menschenbilder sind Glaubensvorstellungen

Bei einem Menschenbild handelt es sich um Modellannahmen, um so genannte basic beliefs, d. h. Glaubensannahmen, die nicht weiter beweisbar oder widerlegbar sind. Es macht keinen Sinn, einander Menschenbilder beweisen zu wollen. Man kann nicht beweisen, ob der Mensch im Grunde seines Herzens gut, böse oder beides ist, ob der Menschen einen freien Willen hat oder nicht, ob man davon ausgeht, dass der Mensch sich im Wesentlichen verändern kann oder einem prinzipiellen Wiederholungszwang unterliegt. Eng damit zusammen hängt auch die Frage nach dem Gottesbild: Ob man glaubt, dass es Gott gibt, dass der Mensch von Gott geschaffen ist, dass es ein guter Gott ist, wie sein Verhältnis zur Welt, zu den Menschen ist usw.

Im Namen verschiedener Gottesbilder (die jeweils sehr eng mit entsprechenden Menschenbildern zusammenhängen) haben Menschen miteinander Krieg geführt und tun dies bis heute im Namen von Ideologien und religiösen Vorstellungen. Auf einer anderen Ebene spielen sich solche „Kriege“ auch im wissenschaftlichen Diskurs ab. Überall wird dabei die grundlegende Tatsache übersehen, dass man einander Menschenbilder nicht beweisen kann.

Menschenbilder, Weltbilder, Gottesbilder sind Modellannahmen, die aus der Erfahrung gewachsen sind. Sie bilden die Basis, auf der aufbauend erst wissenschaftlich und methodisch geforscht und gehandelt werden kann. Und alle Theorie und Praxis lässt sich letztlich auch am jeweiligen Menschenbild (und, wo vorhanden, am Gottesbild) kritisch messen. Das gilt für die Psychotherapeutik (Theorie) und Psychotherapie (Praxis) ebenso wie für die Theologie und Seelsorge.

Zur Funktion von Menschenbildern

Aus erkenntnistheoretischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive bilden Menschenbilder als Modelle die Vermittlung von der Theorie zur Praxis (wie die Erfahrung umgekehrt ein Mittleres von der Praxis zur Theorie darstellt). Ihnen kommen folgende Funktionen zu (Hagehülsmann 1990, 14ff):

Sie sind Erkenntnis leitend, nicht Erkenntnis begründend, also Hilfsmittel für Vorstellungen.

Sie haben eine repräsentierende und selegierende Funktion, d. h. sie stellen Vereinfachungen der Realität dar und sind nicht Aussagen darüber, wie diese tatsächlich beschaffen ist; sie bilden eine Perspektive, unter der die Wirklichkeit gesehen wird.

Ihnen kommt eine heuristische Funktion zu: Die Denk– und Fragerichtung des Erkennenden wird strukturiert, etwa beim Gebrauch von Analogien und Metaphern.

Durch die illustrierende Funktion veranschaulichen sie bildlich und symbolisch; dazu gehört auch die Sprache.

Die konstituierende Funktion von Menschenmodellen macht es aus, dass sie nicht nur Hilfsmittel zur Erkenntnis sind, sondern selbst Wirklichkeit schaffen: Durch ihre Natur des „Als–ob“ im Sinne einer Metapher sind sie konstruktivistisch und ein notwendiger Bestandteil des Erkenntnisprozesses.

Last but not least ist zu beachten, dass Menschenbilder, wie betont, nicht empirisch belegbar sind: Als Glaubensannahmen sind sie höchstens hinsichtlich ihrer Nützlichkeit und Relevanz beurteilbar (es stellt sich ja immer wieder auch die Frage, wozu ein Menschenbild gemacht wird). Sie beinhalten Wertsetzungen; sind ein normatives Fundament für wissenschaftlichen Handeln und können nur durch andere Modelle infrage gestellt werden. Solche Modellkonkurrenz ist notwendig für den wissenschaftlichen Fortschritt.

Menschenbilder als Grundlage von Psychotherapie und Seelsorge

Viele psychotherapeutische Richtungen, die in den letzten 120 Jahren entstanden sind — ungefähr so alt ist die moderne Psychotherapie —, sind nicht explizit von Menschenbildern ausgegangen. Freud etwa hat nie eine Schrift mit dem Titel „Wie ist der Mensch?“ verfasst, aber man kann aus seinem Werk unschwer das Menschenbild herauslesen, das dahinter steht; besser gesagt: die Menschenbilder, die sich im Lauf seines Lebens entwickelt haben und keineswegs spannungsfrei neben einander stehen.

Zahlreiche Strömungen der modernen Psychologie und Psychotherapie sahen und sehen weitgehend immer noch ihre Aufgabe in einem objektivierenden und verallgemeinernden Zugang, beispielsweise im Diagnostizieren, Interpretieren und Klassifizieren. Die Humanistische Psychotherapie hingegen ist bewusst und dezidiert von einem Menschenbild ausgegangen und hat um die Mitte des 20. Jahrhunderts in Abgrenzung vom damals üblichen psychoanalytischen Paradigma auf der einen Seite und vom verhaltenstherapeutischen auf der anderen Seite gefordert, den Menschen nicht länger entweder als eine große konditionierte Ratte oder als einen hochkomplizierten Computer zu verstehen, sondern hervorgestrichen, dass mit dem Thema Mensch auf eine dem Menschen entsprechende Art umzugehen sei. Es müsse also nicht mehr und weniger als eine neue, dem Thema Mensch angemessene Form von Wissenschaft und Forschung und ein neues methodisches Vorgehen gefunden werden. Der Mensch könne nämlich in einzigartiger Weise nicht „Gegenstand“ der Forschung und Praxis im herkömmlichen Sinn sein. Mit anderen Worten: Die Psychologie und Psychotherapie müsse bewusst von einem Menschenbild ausgehen.

Je nachdem, wie man den Menschen sieht, bedeutet Hilfeleistung durch Psychotherapie ja etwas ganz anderes: Wer überzeugt ist, dass Menschen nicht von außen veränderbar sind, sondern vor allem zu sich selber finden müssen, wird Hilfe vor allem darin sehen, dass ein Mensch auf die Ressourcen zurückgreift, die er in sich trägt. Es macht unter diesen Voraussetzungen nämlich keinen Sinn, ihm etwas anderes beibringen zu wollen oder ein Repertoire an Möglichkeiten anzubieten, denn das würde immer an der Oberfläche bleiben. Für den jedoch, der davon überzeugt ist, dass Menschen erst in der Beziehung das werden, was sie sind, ist Psychotherapie Beziehungsarbeit.

Ähnliche Fragen stellen sich für die Seelsorge, wenn es etwa darum geht, wie Verkündigung geschehen kann, wie eines Menschen Beziehung zu Gott gefördert werden kann, wie religiöse Vorstellung verändert werden können usw. Das hat auch für das Selbstverständnis von Glaubensgemeinschaften und der Kirche insgesamt eine große Bedeutung.

Zum Menschenbild des Personzentrierten Ansatzes in der Psychotherapie:
Der Mensch als Person in Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit

Zu den erwähnten humanistischen Ansätzen in der Psychotherapie gehört der Personzentrierte Ansatz, begründet von Carl R. Rogers (1902–1987) in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts in den USA. Der Personzentrierte Ansatz hat seinen Namen nicht von ungefähr; sein Name ist Programm: Mit dem Bezug auf den Personbegriff stellt er sich in eine reiche theologische und philosophische Denk– und Handlungsgeschichte, wenngleich dies in seinen vollen Konsequenzen seinem Begründer nur zum Teil bewusst war. Menschenbild, Theorie und Praxis des Ansatzes sind eindeutig davon bestimmt.[3]

Was heißt „Person“?

Die Begriffsgeschichte des Terminus „Person“ erhellt seine Bedeutung am besten:[4] Etymologisch kommt das Wort „Person“ über das lateinische »persona« höchstwahrscheinlich aus dem Etruskischen: Man hat Grabbilder gefunden, auf denen ein Mann dargestellt ist, der aussieht wie ein Dämon und eine Maske trägt. Daneben steht „jersu [phersu]“. Je nachdem, ob man — was wahrscheinlich falsch ist — das Wort auf die Maske bezieht oder es — wahrscheinlich richtig — als Namensbezeichnung des Dämons auslegt, kommt man auf verschiedene Deutungen: Es bedeutet dann entweder die Maske oder den Träger der Maske.

Eine ähnliche Doppeldeutigkeit gilt für das griechische Wort „proswpon [prósopon]“, von dem nach einer anderen Deutung „Person“ abzuleiten ist: Es bedeutete ursprünglich (etwa bei Aristoteles und in der Bibel) „Gesicht“ (an dem man normalerweise erkennt, wer jemand ist) und später, davon abgeleitet, die Maske des Schauspielers, der „ein Gesicht macht“ — wobei zu beachten ist, dass im griechischen Theater mit seinem liturgischen Ursprung die Maske nicht dem Verbergen diente, wie wir heute assoziieren, sondern dem Erkennen, dem Herzeigen, der Offenbarung (des dargestellten Gottes). Der Schauspieler trug eine Maske, damit man sah, wen er darstellte. In dem Moment, in dem der Schauspieler diese Maske aufsetzte, war der betreffende Gott anwesend. Auf diese Weise kam „Person“ zur Bedeutung des Trägers einer Rolle im Theater (der Buchrolle nämlich, auf die der Dichter den Part des Schauspielers geschrieben hatte). So wird es unter anderem auch heute noch ähnlich verwendet: Auf dem Theaterzettel stehen „die Personen und ihre Darsteller“.

Mit Gesicht versus Maske, Rollenträger versus Rolle sind zwei mögliche Interpretationen gegeben, die eine Kontroverse um das rechte Personverständnis durch die abendländische Geschichte hindurch bilden. Diese unterschiedliche Verwendung des Begriffs hat sich bis in die Psychotherapie der Gegenwart durchgehalten: Bei C. G. Jung bezeichnet zum Beispiel „Persona“ die „Seelenmaske“, während etwa Igor Carusos Personalistische Tiefenpsychologie im Anschluss an Teilhard de Chardin auf Personalisation zielt.

In römischer Zeit, wurde „persona“ dann zum reinen Rollenbegriff, gebraucht beispielsweise für die (soziale) „Rolle im Leben“. Bei Gericht etwa wurden die Rollen (des Richters, Anklägers und Verteidigers) als „personae“ bezeichnet. Diesen umgangssprachlichen, die Beziehung im sozialen Gefüge kennzeichnenden römischen Terminus holten sich zunächst die frühen Theologen und Kirchenväter in ihre Fachsprache, womit der Alltagsbegriff „persona“ in die wissenschaftliche Diskussion kam. Die Frage war ja, wie nach der Erfahrung mit Jesus die Beziehung zu bestimmen sei zwischen ihm, und Gott, den er seinen Vater nannte, sowie seinem heiligen „Geist“, mit dem sich die Christen beseelt wussten. Um dies in den Griff zu bekommen und auf den Begriff zu bringen, verwendeten die Kirchenväter, erstmals Tertullian († nach 213), für ihre Trinitätslehre den römischen Beziehungsbegriff »persona« und formulierten schließlich, es sei „ein Gott in drei Personen“. Damit sollte gegen die monarchianistische Position einer Vorrangstellung des Vaters die Gleichheit betont werden. „In Gott sind drei personae“ meinte allerdings etwas ganz anderes, als wir uns heute unter „Person“ vorstellen. Wenn wir heute sagen, ein Auto sei für fünf Personen zugelassen, meinen wir damit fünf Individuen. Dies würde angewandt auf die trinitarische Glaubensformel, einen glatten Dreigötterglauben bedeuten. Damals aber lag der Fokus auf der Beziehung.

Das theologische Problem war solcherart jedoch nicht gelöst, sondern spitzte sich erneut zu: Was ist eigentlich das Entscheidende am Person–Sein: das Individuelle, Selbstständige („ich für mich“) oder die Beziehung („ich unter den anderen“)? Was macht die Person in ihrem Wesen aus: Was sie aus sich heraus ist (das Substanziale) oder was sie in und durch Beziehungen ist (das Relationale)? Genau diese Frage — die schon einleitend anhand des Beispiels von der erzwungenen neuen Existenz auf einer unbekannten Insel aufgeworfen wurde — durchzieht die abendländische Theologie– und Philosophiegeschichte bis zum heutigen Tag. Zwei Traditionsstränge bildeten sich heraus, ein individualistischer oder substanzalistischer („wer ist jemand an sich?“) und ein relationalistischer („wer ist jemand nach außen, in der Beziehung zu einem Anderen und daher durch und für diesen Anderen?“ und ebenso „wer ist jemand in der Gesellschaft?“). Sie sind bis heute für unser alltägliches Denken maßgeblich und auch für die Diskussion in Theologie und Psychotherapie nach wie vor bestimmend.

Person als Selbstständigsein

Den individualistischen (oder substanzialistischen) Personbegriff hat erstmals Boëthius (480–525) definiert: „Person ist die unteilbare Substanz eines vernünftigen Wesens.“ „Substanz“ kommt vom lateinischen „sub–stare“, das wörtlich „von unten her zum Stehen kommen“ bedeutet, heißt also Von–selbst–zu–Stande–Kom­men, Selbstständigkeit, In–sich–selbst–gegründet–Sein und damit Unabhängigkeit. In dieser Tradition stehen et­wa Thomas von Aquin, der betont, dass die Person aus sich selbst ist, die Aufklärung mit ihrer Betonung des Selbst­bewusstseins  und Kant, der in praktischer Hinsicht Rang und Würde der Person unterstreicht, die „nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf“, sondern „Zweck an sich selbst“ ist, der Freiheit zukommt und deren Hand­lun­gen daher „der Zurechnung fähig sind“. Besonders deutlich wird dieses Verständnis in der Exis­tenz­phi­­lo­­so­phie: Heidegger, Jaspers und Kierkegaard betonen die Verantwortung des Menschen, der sich in der Ex­is­tenz seines Daseins, in seiner individuellen Einzigartigkeit und Unaustauschbarkeit, in seiner Wahl­möglichkeit und Freiheit selbst erfährt und für den es darum geht, „das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist“ (Kierkegaard 1924, 17) — ein Satz, den Rogers (z. B. 1961, 167) gern und immer wieder zitiert.

Wer also mit Person ihre Selbstständigkeit und Einzigartigkeit, ihre Freiheit und Würde, ihre Einheit, ihre Sou­veränität und Selbstbestimmung, ihre Verantwortlichkeit, die von den Vereinten Nationen deklarierten Menschenrechte usw. verbindet, der steht in der Tradition eines solchen individualistischen Personbegriffs. Das ist auch ge­meint, wenn der Mensch von Anfang an und unabhängig von seiner physischen oder psychischen Gesundheit und Entwicklung als Person bezeichnet wird. Personsein heißt, so verstanden, Aus–sich–Sein und Für–sich–Sein.

Person als In–Beziehung–Sein

Am Beginn des anderen, des relationalistischen Traditionsstranges stehen die Kirchenväter, die Person als Bezogenheit verstanden haben: Gott ist Beziehung — das ist gemeint, wenn in der Trinitäts­theologie von drei Personen in Gott die Rede ist. Richard von St. Viktor († 1173) definiert dann Person als „unmitteilbare Existenz einer geistigen Natur“. Person wird hier bewusst nicht als Sub–sistenz, sondern als Ek–sistenz verstanden, als von außen her [„ex“], durch andere zu–Stande kommend, als Gegenüber–Stehendes. Person ist nun gerade der, der durch andere er selbst ist. Konstitutiv für die Person ist ihre Ursprungsbeziehung — wie etwa beim Kind von der Mutter her. Fichte wies darauf hin: „Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch — sollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein.“ Kants Zeitgenosse Friedrich Heinrich Jacobi schrieb: „Ohne Du ist das Ich unmöglich“, und Hegel versteht Person als Hingabe an ein Gegenüber, um sich gerade dadurch im Anderen selbst zu gewinnen. Besonders der Personalismus (auch Dialogisches Denken genannt) betont, dass  vor der Person das Subjekt–Objekt–Denken Halt machen muss: Martin Buber (1878–1965) — gleichfalls von Rogers gern zitiert — betont nachhaltig die dialogische Existenz des Menschen: „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ (Buber 1923, 18) Die fundamentale Tatsache der Existenz ist „der Mensch mit dem Menschen. [...] Person erscheint, indem sie zu anderen in Beziehung tritt.“ (Ders. 1948, 164). Die „Ich–Du–Beziehung“ des Dialogs ist charakterisiert durch Unmittelbarkeit (ist also bar aller Mittel) und durch Gegenwärtigkeit (geschieht somit jeweils im Augenblick).

Noch radikaler als Buber fasst Emmanuel Levinas (1905–1996), aus Litauen stammender und dem Judentum tief verbundener Philosoph, die Beziehungsbedingt­heit der Person, weil er vom Anderen her denkt und das absolute Anderssein des Anderen zum Ausgangspunkt seiner Anthropologie macht: Grundlage des Selbstbewusstseins ist nicht die Reflexion (des Ich am Du), sondern die schon jeweils vorgegebene Beziehungserfahrung, die im Anderen ihren Ursprung hat (also „Du–Ich“ statt „Ich–Du“). Der Andere ist damit nicht ein Alter Ego, sondern ein absolut Anderer, ein bleibendes Rätsel und somit ständige Herausforderung. Er „sucht uns heim“, wofür Levinas die Metapher „Antlitz [visage]“ verwendet, die an den Ursprung des Personbegriffs erinnert. Dieses Antlitz spricht uns an, und seine Not fordert uns heraus. Die traditionelle abendländische Philosophie sei nichts als „Egologie“, bloße Rede vom Ich, gewesen. Selbst in Bubers berühmtem Satz: „Ich werde am Du“ geht es, so gesehen, noch einmal um das Ich. Dagegen setzt Levinas, dass am Anfang aller Philosophie die Ethik zu stehen habe. Ver–Antwort–lichkeit ist demnach die Grundkategorie des Personseins: Aus der Begegnung erwächst die Verpflichtung zur Antwort (s. u.). Levinas bleibt auch nicht wie Buber bei der Zweiheit des Ich–Du stehen; denn es gibt nicht nur ein Du, nicht nur eine personale Beziehung, es gibt den Anderen immer nur in der (wenigstens potenziellen) Gegenwart des „Dritten“, d. h. es gibt viele Andere. Es gibt nicht nur ein Du, es gibt deren Viele und jedes ist anders als die anderen. Es gibt die Anderen der Anderen. Und damit geht die Unmittelbarkeit der Orientierung verloren. Handeln versteht sich nicht mehr von selbst; die Reflexion kommt ins Spiel. Der Spielraum der Freiheit ist eröffnet. Die Präsenz des Dritten stellt das Subjekt vor das Problem der Gerechtigkeit. Wem soll ich mich zuwenden, dem Anderen oder dem Anderen? (Levinas 1983; 1987; 1992) Statt des Paares, der Dyade, statt „Ich und Du“, wird nun die Gruppe, das „Wir“, die Dreiheit zum Grundelement von Interpersonalität (s. u.).

Wer also Person von der Beziehung her versteht, aus der Partnerschaft, aus dem Dialog, aus der Verbindung zur Welt, von ihrer Angewiesenheit auf andere her, wer sie im Ganzen der Gemeinschaft und damit in ihrer Ver­antwortung sieht, der steht in der Tradition des relationalistischen Personbegriffs. Personsein heißt dem­nach Aus– und In–Beziehung–Sein, Von–Anderen–her– und Für–Andere–Sein, Auf–Andere–angewiesen–Sein.

Der personzentrierte Personbegriff

Die beiden skizzierten Zugänge zum Verständnis der Person sind, wie es einem Menschenbild entspricht, nicht weiter beweisbar, wenngleich sie jeweils plausibel und nachvollziehbar erscheinen. In beiden Zugängen zur Person liegen wichtige Ansätze, „hinter“ die ein heutiges Verständnis nicht zurück kann, auch wenn sie sich nicht einfach harmonisieren lassen, sondern in bleibender Spannung gesehen werden müssen. Zur Person gehören Selbstständigkeit wie Selbstbestimmung und Beziehungsoffenheit wie Beziehungs­angewiesenheit, Erfahrung und Begegnung, Souveränität und Engagement, Autonomie und Solidarität, Ich und Wir. Oder, um es mit Heidegger zu sagen: „Dasein und Mitsein sind gleichursprünglich.“ Der Mensch ist von Anfang an Person als eigenständiges, unverwechselbares Individuum (er ist der, der er ist), und er ist von Anfang an auf die personale Gemeinschaft mit Anderen bezogen, ja auf solche Beziehung angewiesen (er ist aus Begegnungserfahrungen der geworden, der er ist, und entwickelt sich durch solche Erfahrungen weiter: Die dialogische Frage „Wer bist du?“ schließt die Frage nach dem „Woher“ und nach dem „Wohin“ ein). Erst durch die Beziehung zu anderen Personen entfaltet und verwirklicht er sein Person–Sein: Er wird Persönlichkeit. Ein solcher Personbegriff steht ebenso im Kontrast zu einem individualistisch–privatistischen wie zu einem kollektivistischen Menschenbild.

Die Spannung zwischen beiden Personbegriffen, die es auszuhalten statt vorschnell auszugleichen gilt, ist das Charakteristische am Verständnis der Person im Personzentrierten Ansatz. Diese Spannung findet sich in der Psychotherapie wieder, wenn es darum geht, dass der Klient durch die Beziehung er selbst wird, dabei begreifend, was er immer schon selbst war und erst noch werden kann. Und wenn es darum geht, dass der Therapeut authentisch er selbst und doch einfühlend und wertschätzend ganz auf den anderen bezogen ist. Die Spannung ist in der therapeutischen Beziehung gegeben, wenn das personale Beziehungsangebot des einen in eine tatsächliche solche Beziehung mündet, im anderen auslöst und zum Vorschein bringt, was schon angelegt war, aber der Beziehung bedurfte, es zu wecken und zu (neuer) Entwicklung anzuregen. In der Austragung dieser Gegensätze, nicht im Aus­gleich, im ständigen Gegenüber der Begegnung geschieht die Aktualisierung der Potenzials der Person — aus den Möglichkeiten wird Wirklichkeit — und wächst die Persönlichkeit.

Im Personzentrierten Ansatz schlagen sich also beide Personbegriffe in ihrer dialektischen Spannung in der Persönlichkeits– und Beziehungstheorie wie im praktischen therapeutischen Handeln und in der Ausbildung und Forschung nieder. Und beide haben zur Formulierung des personzentrierten Axioms geführt, in dem die Dialektik von Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit festgehalten ist: Dass der Mensch die Fähigkeit und Tendenz zur Entwicklung in sich selbst trägt, er aber der Beziehung bedarf, damit diese Entwicklung tatsächlich stattfinden kann.

Zum Gottes– und Menschenbild des Christentums:
Gott als Gemeinschaft — der Mensch als Bild Gottes

In christlicher Sicht und theologischer Reflexion muss zu Beginn der Frage nach dem Menschen und dem menschlichen Zusammenleben die Frage nach Gott stehen, als dessen Ebenbild der Mensch begriffen wird — auch wenn dieser Versuch, Gott zur Sprache zu bringen, immer nur höchst vorläufig geschehen kann. Am Anfang der Bibel steht ein Satz, den wir so in– und auswendig kennen, dass er in seiner fundamentalen Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen und den jüdischen und christlichen Glauben meist gar nicht mehr bewusst ist: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde; als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1, 27)

Das heißt erstens: Je mehr wir von Gott „verstehen“, desto mehr verstehen wir vom Menschen. Und zweitens umgekehrt: Nur wenn wir den Menschen wirklich ernst nehmen und verstehen, können wir uns dem Verständnis Gottes nähern — eine sehr radikale Aussage. Nach christlicher Überzeugung ist also Theologie (wörtlich: „Rede von Gott“) kein Luxus, sondern unter anderem unabdingbare Voraussetzung dafür, verstehen zu können, wer wir selbst sind: Kein Menschenbild ohne Gottesbild. Und umgekehrt: Es kann keinen redlichen Versuch geben, über Gott zu reden, ein Gottesbild zu entwickeln und weiterzuentwickeln, ohne unser Menschenbild nach Kräften weiterzuentwickeln. Dazu ist das Beste, was Theologie einerseits, Humanwissenschaften andererseits leisten können, gerade gut genug.

Vorweg muss hier unbedingt festgehalten werden, dass wir eigentlich nicht „über Gott“ denken und sprechen können, sondern bestenfalls „auf Gott hin“ (Schoonenberg 1986; 1987; Zauner 1986). Was immer in menschlicher Rede über Gott gesagt wird, kann nur analog, d. h. ähnlich und entsprechend, geschehen und damit immer mehr unzutreffend als zutreffend. Alles Reden von Gott muss bildhaft und symbolisch bleiben.

Gott als Beziehung — die soziale Trinitätsanalogie

Das christliche Gottesbild kommt aus der monotheistischen jüdischen Tradition. Von den Juden wurde gegen die polytheistische Umgebung der anderen Völker und des griechischen und römischen Götterhimmels allmählich der Glaube an den einen und einzigen Gott entwickelt und aufrecht erhalten, der in unauflöslicher Beziehung zu seinen Menschen steht. Die Christen wollten die Erfahrungen mit Jesus, der sich selbst in so unmittelbarer Nähe zu Gott verstand, ernst nehmen und ebenso ihre Erfahrungen in der Gemeinschaft in seinem Geist. So haben sie allmählich das differenzierte Bild eines drei–einigen Gottes entwickelt. Das unterscheidend Christliche im Gottesbild ist, dass Gott als Trinität, als Drei–Einheit verstanden wird.

Die zahllosen Versuche, das denkerisch zu bewältigen, können, grob gesprochen, in zwei Interpretationsparadigmata zusammengefasst werden: ein intrapersonales („psychologisches“, parallel zum menschlichen Seelenleben gedachtes) und ein interpersonales („soziales“, „dialogisches“) Denkmodell.[5]

In den letzten Jahrzehnten hat sich, parallel zu gesellschaftlichen Entwicklungen, stärker eine „soziale Trinitätslehre“ herausgebildet, die besagt: Gott selbst ist Gemeinschaft (Communio, Koinonia). Er ist nicht alleine und einsam, sondern von Anfang an Kommunion und Kommunikation. Seine „Mannigfaltigkeit“ widerspricht aber nicht nur seiner Einheit und Einzigartigkeit nicht, sondern: Gott ist Einheit gerade durch Beziehung und Gemeinschaft (er ist „drei–einzig“): Einheit als vollkommenes wechselseitiges Füreinander und Ineinander der Drei, was mit dem theologischen Ausdruck „Perichorese“ bezeichnet wird — ein Begriff, der ursprünglich „wechselseitig einander umtanzen“ bedeutet. Ein eindrucksvolles und aussagekräftiges Bild dafür sind drei „gemeinsame Tänzer“ im Zusammenspiel (Greshake 1997, 94, 190, 393): Es bringt Gemeinschaft als Einheit in Unterschiedenheit ohne Vermischung zum Ausdruck. Mit einem Wort: Beziehung ist das Wesen Gottes; Gott existiert nur in und durch Beziehung; sein Sein ist Mit–Sein.[6]

Dies ist ein Verständnis, das in der Weise für Viele sehr ungewohnt ist, weil Gott meist (einseitig) als der Eine und (fälschlich) als Einzelner, ja Einsamer gesehen wird — eine Vorstellung, die sich eingebürgert hat, obwohl Bibel und christliche Tradition nicht müde wurden zu betonen, das Zutreffendste was von Gott gesagt werden könne, sei: „Gott ist die Liebe“ (1 Jo 4, 8.16). Und dies ist ja eindeutig ein Beziehung und Gemeinschaft betonender Begriff.

Gott in Beziehung zu den Menschen und als Urbild menschlicher Beziehung

Was für Gott selbst („innertrinitarisch“) gilt, gilt auch für seine Beziehung zu den Menschen („heilsökonomisch“), wie es etwa der Gottesname „Jahwe“ (Ex 3,14) zum Ausdruck bringt („Ich bin, der ich für euch da bin“). Gott hat eine Beziehung zu seiner Schöpfung, ja, inkarnationstheologisch kann man sagen: Aufgrund der Menschwerdung Gottes gehört diese Beziehung Gottes zu Mensch und Welt gleichfalls zu seinem Wesen. Von Gott kann nun nicht mehr geredet werden, ohne auch von seiner Beziehung zu den Menschen zu reden: Gott ist ein Gott der Menschen (Schoonenberg 1969).

Und dieses Beziehungsein Gottes, das er in sich selbst ist, teilt er auch dem Menschen mit, so hat er den Menschen erschaffen, so tritt er in Beziehung zu den Menschen. Ein solches Gottesbild und ein solcher Communio–Begriff hat also schließlich Auswirkungen nicht nur für das Verständnis Gottes selbst („immanente Trinität“) und die Beziehung zwischen Gott und Mensch („ökonomische, heilsgeschichtliche Trinität“), sondern — wie zuvor betont — in Grund–legender Weise auch für das Verständnis der Menschen und ihr Zusammenleben im Allgemeinen. Darüber hinaus sind damit Vor–Gaben verbunden für das Verständnis der Kirche (als Communio) und ihre Realisierung in der Sozialgestalt der Gemeinde im Besonderen.

Levinas betont, dass „nach dem Bilde Gottes sein“ nicht heißt, „Ikone Gottes“ zu sein, sondern sich gemeinsam „in seiner Spur“ zu befinden. Die Abbildhaftigkeit des Menschen ist dabei im Du, nicht im Ich zu suchen. So führt der Weg, der zum du, zum „Antlitz“ des Nächsten führt gemeinsam mit allen, die sich „in der Spur halten“, letztlich auch zu Gott (vgl. Levinas 1981, 79f; 1982; Windisch 1989, 173). Levinas zufolge wird die dialogische Gemeinschaft von der Einheit mit dem bzw. den Anderen her definiert. Daher wird die Ethik erste Philosophie aufgrund der dialogisch–diakonischen Begründung der Person (s. u.)

Levinas hat damit auch einen den Dual, das Paar, das Ich–Du–Beziehungsgefüge übersteigenden sozialphiloso­phischen Ansatz in der Begegnungsphilosophie eingeführt, der — theologisch verstanden (Windisch 1989; Splett 1986) — eine Grundlage für Drei–Einigkeit als Prinzip von Interpersonalität im Sinne der Selbstüberschreitung bildet: Die einfachste Form von Gemeinschaft ist die Dreizahl von Personen. „Sie steht gegenüber der Eins, welche Einsamkeit bzw. In–sich–Geschlossenheit bedeutet, und sie steht gegenüber der Zwei, die entweder Trennung und Ausschluss besagt („Ich bin nicht du!“) oder auch Narzissmus („Du bist für mich!“) indiziert.“ Dazu ist nun das Wir der personalen Beziehung nicht als das Wir von Zweien, sondern das von Dreien und somit als Drei–Einigkeit aufzufassen. In einer solchen Beziehungsgemeinschaft ist niemand Mittel, aber jeder Mittler. Statt eines monologischen Sich–selbst–Verwirklichens unter Einbeziehung des Anderen als eines Objektes geht es dabei um Dialog, wenn sich das Paar nicht abschließt und den Dritten ein– statt ausschließt und ihm Raum gibt in seinem Zueinander.

Das christliche Gottesbild hält also dreierlei fest: Der dreieinige Gott ist (für sich) selbst Beziehung und Gemeinschaft. Er ist Beziehung zu uns und lädt in seine Gemeinschaft ein. Und er ist Urbild von Gemeinschaft und der tragende Grund unserer Beziehungen zueinander.

Einige Konsequenzen personaler Anthropologie:
Pluralität, Begegnung, Konstruktivismus, Konsistenz

Wenn wir also ernst nehmen, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist, dann bedeutet das für das Menschenbild, dass der Menschen zu aller erst und von allem Anfang an auch als ein Wesen in Beziehung zu verstehen ist. „Trinität ist das Symbol für gelungenes Personsein und gelungene menschliche Gemeinschaft.“ (Hilberath 1990, 91, 94)

Pluralität: Der Mensch als Mann und Frau

Das bedeutet auch, dass der Mensch als Gleichnis Gottes von Anfang an plural ist. In diesem Zusammenhang gewinnt auch der zweite Teil des oben zitierten Bibelverses (Gen 1,26) eine besondere Bedeutung, nämlich dass der Mensch von Anfang an nicht als „der Mensch“ erschaffen ist, sondern dass es ihn nur als Mann und Frau gibt. Gott ist in sich Einheit und Differenz: Der Mensch ist von Anfang an zu Vielfalt angelegt, nicht zu Einheit in Ununterschiedenheit. Einheit kommt vielmehr gerade aus der Unterschiedenheit zustande.

Der Mensch ist schon „im Anfang“ Gemeinschaft (Schmid 1998a); er ist das „Wesen des Einander–gegenüber–Stehens“, das „Wesen der Differenz“. Dass die Bibel von ihrem Beginn an davon spricht, dass der Mensch von Gott als Mann und Frau erschaffen ist, wobei der und die eine nicht ohne die und den anderen als eine(n) Andere(n) zu verstehen ist, darf gerade in diesem Zusammenhang ebenfalls als Abbild der göttlichen Gemeinschaft gesehen werden. Das Wesen des Menschen besteht nicht im Mannsein oder Frausein, sondern in der Beziehung zueinander (Duquoc 1991, 344). Von allem Anfang an war es das Thema des Menschen, dass es nicht gut sei, allein zu sein — und es ist ebenfalls Gott, der dies zu Beginn der Genesis feststellt (Gen 2,18). Deshalb ist der Mensch von seinem Ursprung her als Beziehungswesen, als Gemeinschaftswesen geschaffen.

Der Mensch ist Person als Mann, der Mensch ist Person als Frau: Mann und Frau mögen hier unter anderem auch als Chiffren dafür stehen, dass der Mensch von Anfang an auch auf einander, auf das Gegenüber angewiesen ist.[7]

Das Gegenüber aber verweist auf Begegnung. Sie ist die personale Form der Beziehung.

Begegnung: „Von einem Rätsel wach gehalten werden“

Personale Be–geg(e)n–ung bedeutet, einer anderen Person als Person gegenüber zu treten. Sie ist ein Betroffensein von der Wirklichkeit und vom Wesen des Gegenüber–Stehenden als eines Anderen, wie es Guardini (1955) ausdrückt. Sie kann in feindseliger wie in Wohl wollender Weise geschehen. In der personalen Begegnung wird ein anderer in seinem Wesen eben als ein zutiefst Anderer erfahren, der sich nicht in Bekanntes, Vertrautes einordnen und somit in die Ich–Erfahrung integrieren lässt. Begegnung hat wesentlich mit diesem Gegenüberstehen und Anderssein des Anderen zu tun, heißt, in dessen Gegenwart zu stehen und von ihm wesenhaft betroffen zu werden — eine große Herausforderung, auf die sich einzulassen der Mensch jeweils neu zu entscheiden hat.

Wir versuchen ja üblicherweise, Unbekanntes dadurch zu verstehen, dass wir es in Bekanntes einordnen. (Man kann das beispielsweise beobachten, wenn eine österreichische Reisegruppe in irgendeinem fernen Land vom Flughafen mit dem Bus ins Hotel fährt und jemand ausruft: „Hier schaut es aus wie im Mühlviertel, nur dass es dort keine Palmen gibt.“) Man versucht das, was man nicht kennt, irgendwie unter das einzureihen, was man schon kennt. So gehen auch viele psychotherapeutische Richtungen vor: Man versucht eine Diagnose zustellen, das heißt, man versucht mit einem einzigartigen Menschen so umzugehen, dass man ihn in ein bekanntes Schema hineingibt, um besser mit dieser Wirklichkeit des Anderen umgehen zu können. (Je nach dem Menschenbild ist das genau der richtige oder genau der falsche Weg.) Ähnlich machen es Menschen auch mit Gott, wenn sie versuchen, Gott, der auch der ganz Andere ist, der „in unzugänglichem Licht wohnt“ (Tim 6,16), irgendwie nur auf das (Über–)Menschliche zu reduzieren. Dabei geht das Gegenüber verloren.

Es ist letztlich die Erfahrung des Anderen als Du, die Begegnung von jeder anderen Form der Beziehung unterscheidet und sie vor allem von jeder Form der Objektivierung des Anderen, seiner Versachlichung und Instrumentalisierung, streng abhebt. In der Wechselseitigkeit der personalen Beziehung, im Dialog gewinnt der Mensch sein Personsein, wird gerade dadurch ganz er selbst, dass er sich auf den Anderen einlässt, ihm gegenübertritt, ihn sich wahrhaftig, wertschätzend und anteilnehmend vergegenwärtigt und selbst in ungeschützter Offenheit gegenwärtig ist. Diese Haltung der Gegenwärtigkeit öffnet ihn, geschieht sie zweck– und absichtlos, authentisch und spielerisch, für den Reichtum des Anderen. Personale Begegnung, zu der nur die autonome Person imstande ist, ist — aus der Solidarität geboren, zur Solidarität führend — die dem Menschen in der Gemeinschaft angemessene Form der Beziehung.

Die Begegnungsphilosophie hat dies deutlich herausgearbeitet. Levinas etwa vergleicht paradigmatisch Odysseus und Abraham. Der eine, der nach langjähriger Fahrt wieder nach Hause zurückkommt, dorthin, wo man sich auskennt, der andere, der das eigene Land verlässt, in die Fremde aufbricht und sich wirklich auf etwas Neues einlässt: Zwei Möglichkeiten menschlicher Entwicklung, das Gegenüber der traditionellen Philosophie und der jüdischen Theologie. Levinas fordert, im Gegensatz zur herkömmlichen Art des Denkens, wirklich ganz anders, also vom Anderen her zu denken, sein Anderssein radikal ernst zu nehmen und sich dabei überraschen zu lassen: „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wach gehalten zu werden.“ (Levinas 1959, 120).

Die Bedeutung dessen für ein angemessenes Verständnis von Psychotherapie und Seelsorge (und für die politischen Implikationen dieser Handlungsansätze und der ihnen entsprechenden Wissenschaften) kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Den Ausgangspunkt prinzipiell beim Anderen zu nehmen, bedeutet die Überwindung jedes falsch verstandenen Selbstheilungsglaubens und Selbstverwirklichungsdenkens, wie es sich in einer kurzsichtigen und „egologischen“ Humanistischen Psychologie (die aber im Lichte solcher Begegnungs­philosophie gerade als „inhuman“ zu bezeichnen ist) findet (vgl. Schmid 1997a). Und es bedeutet die Abkehr von einem hierarchie– und expertenzentrierten Denken. Den Dritten grundsätzlich in die Überlegungen einzubeziehen, bedeutet die Überwindung sich–abkapselnden, individualistischen, das Systemische ignorierenden (ders. 1996, 77–112), unpolitischen (und daher monistischen, atrinitarischen) Denkens und Handelns im psychosozialen wie im pastoralen und theologischen Bereich, etwa in der Überwindung einseitiger, individuumszentrierter Pastoral wie Psychotherapie.[8]

Nimmt man das ernst, kann Seelsorge nicht mehr heißen, dass einige wissen, wie man zu leben und zu glauben hat, und versuchen, dies anderen beizubringen. Seelsorge kann dann nicht mehr heißen, wie es lange traditionelles Verständnis war, dass einige Personen, die das Amt und den Auftrag haben, also die Priester oder Pastoren, allein die Seelsorger sind. Sie galten als die Fachleute für den richtigen Glauben und das richtige Leben. Ein solches Paradigma von „Seelsorge als Betreuung“ wurde dann — nicht zuletzt unter dem Einfluss der Psychotherapie — abgelöst vom Paradigma von „Seelsorge als Beratung“, in dem aber wieder die Seelsorger die Experten sind, die man um Rat fragen kann und die wissen, „wie es geht“, weil sie Experten sind, wenn schon nicht für den Inhalt, so wenigstens für den Weg. Dieses Paradigma ist noch einmal zu überwinden — hin auf ein Selbstverständnis von „Seelsorge als Begegnung“: Seelsorgerinnen und Seelsorger sind dann alle Christinnen und Christen füreinander. Seelsorge bedeutet die wechselseitige Unterstützung und Förderung im Christsein. Die „amtlichen Seelsorger“ sind dazu da, diese Einstellung zu ermöglichen und zu fördern, ihre Mitchristen dazu zu „ermächtigen“. Seelsorge als Begegnung heißt, sich miteinander auf den Weg zu machen.[9]

Das Gleiche lässt sich auch für die Psychotherapie sagen. Auch in der Psychotherapie sind wohl die Tage gezählt, wo man ernsthaft Psychotherapeuten als Fachleute dafür ansieht, wie man richtig mit dem Leben umgeht. Wer will denn Fachmann für gelungenes Leben sein, Fachmann für Beziehungsgestaltung oder Liebe? Wenn man will, dann kann man, pointiert formuliert, sagen, Psychotherapeuten seien Experten dafür, diese Expertenrolle nicht zu übernehmen. Sie sind ausgebildet dafür, in ein Gespräch einzutreten, Menschen als Personen zu begegnen und sich nicht dazu verführen zu lassen, weder von den eigenen Machtansprüchen noch von der Hilfsbedürftigkeit des Anderen, sich als Fachmann zu gebärden. (Und dazu braucht es in der Tat eine lange Ausbildung zum Psychotherapeuten oder beruflichen Seelsorger, denn verleitet von eigenen Machtbedürfnissen, von der eigenen Hilfsbedürftigkeit und der anderer sowie von krisenhaften Situationen tendiert man nur allzu gern dazu, sich in die Rolle des Experten zu begeben oder in sie zu flüchten.)

Konstruktivismus: Gemeinsame Suche in Dialog und Diakonie

Eine weitere Konsequenz aus diesen Überzeugungen heißt: Es gibt nicht nur ein Menschenbild, nur ein richtiges Gottesbild, es gibt nicht nur eine Wahrheit, sondern wir Menschen sind zu nichts anderem imstande, als in Gemeinsamkeit immer besser zu versuchen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Wir müssen nicht nur von einem Pluralismus ausgehen, sondern von einem Konstruktivismus und uns dessen bewusst sein, dass wir uns „konstruieren“, zusammenbauen, was wir denken und uns vorstellen. Konstruktivismus bedeutet nicht, dass es keine Wahrheit geben kann. Es bedeutet aber, dass kein Mensch für sich in Anspruch nehmen kann, die Wahrheit zu kennen oder zu haben.

Wird dieses Anderssein des Anderen anerkannt, so ist der vorrangige Wahrnehmungsmodus der des (Wohl wollenden) An–Erkennens und nicht der des (objektivierenden und damit distanzierenden) Erkennens. Deshalb ist die mit einer solchen psychotherapeutischen Auffassung verbundene Erkenntnistheorie immer eine dialogisch–diskursive, pluralistische und konstruktivistische.

Das in der Vielfalt einheitsstiftende Prinzip ist Kommunikation: Communio wird durch Communicatio. Aus dem Verständnis von Begegnung und aus einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie ergibt sich notwendigerweise der Dialog als einzig legitime Form der Kommunikation.

Psychotherapeutisches und seelsorgliches Handeln, das diese Tatsache ernst nimmt, kann nicht mehr davon ausgehen, herauszufinden zu suchen, „wie es wirklich ist“ oder „wie es richtig gemacht gehört“, sondern sie kann nur mehr im Dialog darin bestehen, miteinander „in der Spur zu bleiben“, wie es Levinas ausdrückt. Es gilt, sich auf den Weg zu machen, gleichberechtigt einander gegenüber zu treten und im Austausch der Worte und Taten, also in Dialog und in Diakonie, sich gemeinsam auf die Suche zu begeben. Im Handeln, in dem einer stellvertretend für den anderen einspringt und der andere stellvertretend für den einen kann Psychotherapie und Seelsorge, je nach ihrer eigenen Art, geschehen.

Das bedeutet auch eine neue Form des Umgangs mit Widersprüchen und eine neue Form des Glaubensdiskurses. Die Frage sei in der von weltanschaulichem Pluralismus und Individualismus geprägten Gegenwart „der eigentliche religiöse Akt“, betont Wolfgang Langer (2000), was einen Paradigmenwechsel bei der Glaubensvermittlung und für Religionspädagogik und Verkündigung erfordere. Und er überlegt, ob nicht zum Beispiel alle Katechismen darauf umgeschrieben werden müssten, statt Antworten zu geben, Fragen zu formulieren und zu Antworten herauszufordern.

Konsistenz: Zur Wichtigkeit der Kompatibilität von Methoden

Eine weitere Folgerung, die sich aus diesem Menschenbild ergibt und die Wichtigkeit der Reflexion von Menschenbildern deutlich werden lässt, ist, dass es keinen Sinn macht, beliebig verschiedene Ansätze und Menschenbilder zu kombinieren. Dies gilt für die Pastoral wie für Psychotherapie und Beratung. Wenn vom Menschenbild her verschiedene Ansätze von Verständnis, Beziehung, Entwicklung usw. durcheinander geworfen werden — leider eine vielfach gängige Praxis in der Psychotherapie wie in der Seelsorge — entsteht ein höchst inkonsistentes Angebot an den Klienten bzw. den Mitchristen. Es gibt sehr viele psychotherapeutische Methoden, die geradezu davon leben, sich zu fragen, welche Methoden effizient seien, und diese zu kombinieren, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob diese Methoden und Techniken einer gemeinsamen Sicht vom Menschen entsprechen. Und oft genug geht es dann, nicht zuletzt unter ökonomischen Druck, ausschließlich darum, wie man Krankheiten möglichst schnell wegmachen kann. Nach dem Menschen wird nicht mehr gefragt. Es geht vielmehr nach dem Prinzip: „Schnitzel ist gut. Schlagobers ist gut. Wie gut muss erst Schnitzel mit Schlagobers sein!“ 

Anspruch und Ver–antwort–ung:
Der Dialog über Menschenbilder als ethische Verpflichtung

Bereits die Entscheidung, psychotherapeutisch (oder allgemein beratend usw.) tätig zu sein, stellt eine ethische Entscheidung dar. Sie ist die Ant–Wort auf den An–Spruch eines leidenden, Hilfe bedürftigen Menschen. Grundlage aller Psychotherapie ist die Reaktion auf Not — die Not anderer und die eigene Not. Wer psychotherapeutisch tätig ist, lässt sich von einem Anderen in An–Spruch nehmen. Die Not des Anderen fordert heraus. Das Wahrnehmen der Ver–Antwortung ist die Folge. (Das englische Wort für „Verantwortung“, „responsibility“, drückt dies deutlich aus: „Reponse–ability“ heißt „Antwort–Fähigkeit“.) Psychotherapie ist in diesem Sinne als Sozialethik zu verstehen.[10]

Die Herausforderung, die von der Not eines leidenden Menschen ausgeht, der An–Ruf, ist primär. Er macht betroffen. Sein Wahrnehmen erfolgt vor jeder reflektierten Reaktion. Das Erleben (des Anspruchs) und damit das Leben gehen jeder Reflexion voraus. Die Ethik ist in diesem Sinne „die erste Philosophie“, wie Levinas (1983) hervorgestrichen hat; dieses Erleben selbst beinhaltet einen ethischen Anspruch. Er wird nicht erst durch reflexiven Diskurs erschlossen, er ist unmittelbar gegeben („ich brauche Hilfe — und zwar von dir!“) — un–Mittel–bar gegeben als jene besondere Form des Wissens, die in traditioneller Sprache ausgedrückt, „Ge–Wissen“ genannt wird. Sich diesem Angesprochenwerden zu stellen, sich betreffen zu lassen, bedeutet, sich auf eine personale Begegnung (also auf eine per definitionem un–Mittel–bare Beziehung) einzulassen, dem Gegenüber als Person entgegenzutreten und sich von ihm in Anspruch nehmen zu lassen.

Das Menschenbild kommt ins Spiel, wenn es um die Frage geht, ob (und in der Folge dann: wie) dem erfahrenen Anspruch ent–sprochen wird. Nach der Grundentscheidung, dem Anruf des Hilfesuchenden zu entsprechen (d. h. mit ihm therapeutisch zu arbeiten) und nicht nichts oder anderes zu tun, ist also auch der nächste Schritt, die Wahl der Art und Weise bzw. der Mittel, ein ethischer: Welchen Weg der Therapeut wählt, wird wesentlich von der (ethischen) Entscheidung bestimmt, die seiner Auffassung nach optimale Art der Hilfestellung anzubieten. Wer davon überzeugt ist, dass der Klient dieser oder jener Hilfe bedarf, ist herausgefordert, ihm diese nötige und keine andere, mindere anzubieten. Hier geht wieder um das Menschenbild. Auch beim zweiten Schritt fußt die ethische Entscheidung auf der anthropologischen Vorannahme bzw. den Glaubensannahmen des Therapeuten. Sein Menschenbild entscheidet, wenn er sein Tun verantwortungs­voll reflektiert, auch wie er handelt.[11]

Ähnliches gilt für den glaubenden Menschen, der seinen Glauben ja als Antwort auf den vorgängigen Anruf Gottes versteht.

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Menschenbilder sind also aus der jeweiligen Erfahrung entstandene, sich verändernde Glaubensüberzeugungen; sie sind Prozesse. Der Dialog über sie, damit ihre ständige Weiterentwicklung ist gleichfalls eine ethische Herausforderung.

Daher gilt: Du sollst dir kein fertiges Bild vom Menschen machen. Du sollst nicht glauben, dass du weißt oder wissen kannst, wie es wirklich ist. Du sollst nicht glauben, dass du es anderen beibringen kannst, sondern du bist aufgerufen, von einem Rätsel wach gehalten zu werden, nach Antworten zu suchen, nach vorläufigen Antworten. Auch gilt: Du sollst deine Bilder kommunizieren, in die Gemeinschaft einbringen und infrage stellen lassen.

Man kann dieses „du sollst“, wie bei der ursprünglichen hebräischen Bedeutung der Zehn Gebote, auch verstehen als vertrauensvolle Zusage im Sinne von: „Du kannst es“ bzw. „Du hast es nicht notwendig, zu ...“ („Du hast es nicht notwendig, andere Götter neben mir haben.“ „Du hast es nicht notwendig, zu morden und die Ehe zu brechen.“ „Du kannst Vater und Mutter ehren, du hast Möglichkeit dazu, es ist eine Chance für dich.“)

Du hast es also nicht notwendig, dir ein fertiges Bild von dir machen und du hast es nicht notwendig, dir ein fertiges Bild von deinen Mitmenschen und von Gott machen. Aber du hast die Möglichkeit und die Chance, in Kommunikation und Dialog zu treten und Gemeinschaft zu haben.

Alles, was wir jetzt erkennen können, ist Gleichnis, vorläufiges Bild. Dereinst aber, so dürfen wir glauben, werden wir schauen: nicht mehr Bilder, sondern „face to face“, von Angesicht zu Angesicht (1 Kor 13).

Anmerkungen

[1] Überarbeitete Fassung eines Referats auf der 2. Interdisziplinäre Tagung „Leib und Seele“ — „Menschenbilder und ihre Wirkung“ am 26. Oktober 2000 im Haus der Begegnung, Innsbruck.

[2] In weiterer Folge wird der Lesbarkeit halber jeweils der Gattungsbegriff gebraucht, um Frauen und Männer zu bezeichnen.

[3] Zum Folgenden vgl. Schmid 1991; 1994a; 1996; 1998a; 1999a; 2001c.

[4] Belege zum Folgenden in Schmid 1991, 1998a.

[5] Auf sie kann hier nicht näher eingegangen werden. Literatur dazu in Schmid 1998a.

[6] Um es sehr pointiert auszudrücken, kann man formulieren, man könne von Gott ebenso sagen, er sei „Person“ in der zuvor beschriebenen dialektischen Doppelbedeutung von Selbstständigkeit und Beziehung, wie man von ihm sagen kann — immer unter Anführungszeichen, als Verstehensmodell unter strikter Beachtung der Analogizität — er sei „Gruppe“. „Person“ wird hier nicht in der Bedeutung gebraucht, das die oben zitierte und dogmatisierte Konzilienformulierung „In Gott sind drei Personen“ mit dem damaligen Beziehungsbegriff „persona“ angezogen hat, sondern in der heutigen Bedeutung des Begriffs. Von Gott kann nach diesem Verständnis gesagt werden: Er ist „Person“ ist „Individuum“ ist „Gruppe“. Gott ist aber nun nicht, wie bei mensch­lichen Gruppen, eine Gruppe, die aus Personen besteht. Man muss bei Gott vielmehr von einer Gruppe selbst als Person sprechen: Bei Gott lassen sich Person und Gruppe in eins setzen. In ihm fallen Individualität und Relationalität in einmaliger, unüberbietbarer Weise zusammen („substanzielle Relationalität“). (Näheres bei Schmid 1998a, 41-50.) — Es ist zu überlegen, ob es nicht, jedenfalls heute, passender ist, bei den „göttlichen Drei“ nach biblischer und alter Tradition (vgl. z. B. Tertullian, Gregor v. Nazianz) den Sprachgebrauch „Vater, Sohn und Geist“ beizubehalten statt von drei göttlichen Personen zu reden. „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ sind wir getauft. Diese Worte sind „konkreter und reicher“, meint Schoonenberg (1992, 157).

[7] Nur angemerkt kann hier werden, dass geschlechtsspezifische Aspekte des Personseins gerade auch in der Therapie eine zentrale Rolle für das Verständnis spielen (Schmid/Winkler 2001).

[8] Ausführlich zur Phänomenologie und zum Verständnis von Begegnung und ihrer Bedeutung für Psychotherapie und Seelsorge: Schmid 1991; 1994a; 1996; 1998a.

[9] Zu einem entsprechenden Verständnis von Seelsorge s. Schmid 1989; 1994b; 1997b; 1998a; 1998b; 1999b; 2000.

[10] Zu Ethik als Grundkategorie der Psychotherapie s. Schmid 1996, 521–532; 2001a; 2001b.

[11] Es ist wohl müßig zu betonen, dass Ethik hier nicht als modernes Ersatzwort für Moral steht, sondern deren Grundlage darstellt, also „Moralphilosophie“ bedeutet (vgl. Schmid, 2001a; 2001b).

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Autor

Peter F. Schmid, Univ.Doz. HSProf. Mag. Dr., Praktischer Theologe und Pastoralpsychologe, Psychotherapeut, Supervisor, Begründer personzentrierter Aus– und Fortbildung in Österreich, Ausbilder an der Akademie für Beratung und Psychotherapie des Instituts für Personzentrierte Studien (IPS der APG), Wien.

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