Artikel Kunst  

Peter F. Schmid

Kunst und Person
Kunst als Ausdruck und Begegnung *

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Überblick

Kunst und Kirche über Kreuz
Ein abgewürgtes Experiment
Von der Bedeutung der Absichtslosigkeit
Von der Bedeutung der Authentizität

Kunst geschieht, wenn die "Mittel zerfallen"

"Wenn ihr eine Botschaft übermitteln wollt,
dann wendet euch an die Post."
Woody Allen, Gott

Kunst und Kirche über Kreuz

Vergangenen Sommer war es wieder in allen Medien mehr als deutlich präsent: Das spannungsvolle und konfliktreiche Verhältnis zwischen Kirche und Kunst. Als der Termin für Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater in seinem niederösterreichischen Schloss Prinzendorf näher rückte, gab es Stellungnahmen aus der Kirche zuhauf, kontrovers, zumeist aber, auch offiziell von bischöflicher Seite, ablehnend und verurteilend. Kirche und Kunst waren wieder einmal über Kreuz.

Im Fall des Hermann Nitsch ist das sogar wörtlich zu nehmen. Denn Nitsch verwendet neben anderen kirchlichen Symbolen, Geräten, Ritualen und Inhalten in seinen Inszenierungen oft und prominent das Kreuz. Während sich jahrhundertelang vor allem die Kirche der Kunst bedient hatte, um ihre Botschaft zu transportieren, ist es nun gerade umgekehrt: Künstler bedienen sich dezidiert kirchlicher Elemente, um sich auszudrücken beziehungsweise ihre Anliegen zu gestalten. Man kann dies etwa bei Hermann Nitsch mit aller Deutlichkeit finden: Kirchliche Symbole dienen ihm als Mittel, zum Ausdruck zu bringen, was ihm im Verhältnis des Menschen zur Natur und zu seinem Leben wichtig erscheint.

Die Machtverhältnisse haben sich ganz offensichtlich entscheidend gewandelt. Zensur ist kaum mehr möglich, und wo sie ausgeübt wird, wirkt sie vielfach unangebracht, ja peinlich. Auch und gerade in der Kunst setzen sich Emanzipation und Autonomie der Menschen durch. Wenn man es auf die Spitze treiben will: Jetzt sind kirchliche Themen, Zeremonien und Gegenstände Mittel zum Zweck, wie es umgekehrt die Kunst lange Zeit für die Kirche war.

Ein abgewürgtes Experiment

In Wien hat der Dialog zwischen Kunst und Kirche eine besondere Tradition seit der Zeit von Otto Mauer, Domprediger und prominenter Kunstförderer. Von 1986 bis 1990 gab es sogar eine eigene kirchliche Institution für das Gespräch zwischen Kunst und Kirche, die im Pastoralamt angesiedelte "Kontaktstelle Kultur". Ihre Einrichtung und ihre Abschaffung, im Folgenden kurz beschrieben, mögen als Symptom für den immer noch weit verbreiteten Umgang mit der Kunst in der Kirche gelten.1 Denn wenngleich die Autonomie der Kunst kirchlicherseits immer wieder betont wird, so sieht es doch in der Praxis weitgehend anders aus.

Aus meiner Tätigkeit als Pastoralassistent der Wiener Studentengemeinde Pfeilgasse und dem damit fast unvermeidlich verbundenen Theaterspielen war das "Bretterhaus"2 hervorgegangen, das sich bald zum größten österreichischen Amateurtheater entwickelt hatte.3 Vielleicht war einer der Gründe für den Erfolg dieses Theaters, dass Spielen hier nicht, wie so oft, als pastorale Methode eingesetzt worden war. Die bestimmenden Faktoren blieben vielmehr die ursprüngliche Lust am Spiel, die anfangs im kleinen Kreis spontan und ohne jede Absicht entstanden war, und das Interesse an der eigenen Auseinandersetzung sowie der Konfrontation Anderer mit Themen, von denen die Mitwirkenden selbst betroffen waren und die ihr Engagement speisten.

Der Rahmen einer Studentenbühne war längst gesprengt, und der damalige Diözesanadministrator Bischof Krätzl errichtete im Licht des großen Erfolgs "ad experimentum" auf zwei Jahre die erwähnte Kontaktstelle mit dem Auftrag, das Gespräch zwischen Kirche und Kunst beziehungsweise Kulturszene gerade auf der Ebene "unterhalb der Hochkultur" zu suchen, künstlerische Aktivitäten in Pfarren und anderen kirchlichen Bereichen zu fördern bzw. ihnen beratend zur Seite zu stehen und selbst entsprechend künstlerisch tätig zu sein. Eine Reihe von Veranstaltungen (etwa "Künstler, Ketzer, Konsumenten", eine öffentliche Gesprächsreihe mit namhaften Künstlern, Kunstjournalisten und Kulturpolitikern) und viele Initiativen entstanden, zahlreiche im Wiener Szene-Bereich, in der Beisl-Kultur oder mit Amateuren, andere auf der Ebene der großen Politik und Kultur. Beachtliche Publizität erlangte etwa das einzige öffentliche Gespräch von kirchlicher Seite mit George Tabori anlässlich des Aufführungsverbots seiner Inszenierung der "Offenbarung des Johannes" in der Kollegienkirche anlässlich der Salzburger Festspiele zur Frage, ob Kunst religiöse Gefühle verletzen dürfe. Und weil in ein Theater oft auch Leute gehen, die sich nie in eine Kirche "verirren" würden, waren auch die eigenen Aufführungen eine kirchliche Kontakt–Stelle im wahrsten Sinn des Wortes.

Nach einer einmaligen Verlängerung, neuerlich ad experimentum, kam das ersatzlose Aus. Kurt Krenn war inzwischen Weihbischof von Wien und Bischofsvikar für Kunst und Kultur geworden. Das Experiment wurde schlicht abgewürgt. Als Argument dienten unter anderem Briefe einzelner Personen (die die Aufführungen nicht einmal gesehen hatten) und sich über die Respektlosigkeit im Umgang mit heiligen Personen auf der Bühne beschwert hatten...

Man kann diese Entwicklung auch so lesen: Wie es zunächst opportun erschienen war, die Kulturstelle einzurichten, so erschien es etwas später opportun, sie abzuschaffen. – Die Kunst und das Gespräch mit ihr dienten als Mittel zum Zweck

Von der Bedeutung der Absichtslosigkeit

Heute arbeite ich unter anderem als Psychotherapeut. Auch die Psychotherapie lässt sich als eine Kunst verstehen,4 in der es um Beziehung und Beziehungsgestaltung, letztlich um Begegnung geht — etwas, das man nicht "machen" kann, sondern das sich ereignet. Gerade über die Therapie ist mir umso deutlicher geworden: Wie sie können Kunst und Religion nicht Mittel oder Methode sein.

Kirche und Kunst nehmen beide für sich in Anspruch, dass es ihnen jeweils um den ganzen Menschen geht. Von diesem Standpunkt her erscheint es besonders problematisch, einander zu funktionalisieren und als Mittel zu einem Zweck zu gebrauchen — gleich, welche von beiden es nun mit der jeweils anderen tut. Wird Kunst verwendet, "um zu" — etwa um Glaubensinhalte zu transportieren oder um etwas Bestimmtes oder eine bestimmte Personengruppe zu erreichen —, so wird man ihrem Wesen ebenso wenig gerecht, wie man der Religion gerecht wird, wenn sie verwendet wird, "um zu" — beispielsweise um mit ihrer Hilfe oder mittels ihrer Inhalte und Ausdruckweisen etwas auszusagen.

Religion wie Kunst sind Lebensäußerungen, die man nicht einmal adäquat in den Blick bekommt, wenn man sie instrumentalisiert. Kunst ist weder zur Behübschung (Otto Mauer) da, noch zum Transport von Glaubenswahrheiten. Sie kann das Leben schöner machen und den Glauben fördern und besser verstehen lassen, solange sie nicht dazu verwendet wird, sondern absichtslos und damit personal gestaltet. Ebenso ist Religion nicht dazu da, um Sinn zu stiften, das Leben zu ordnen usw., sondern sie ist einfach personaler Ausdruck und personale Beziehungsgestaltung des Menschen (und erst als solche vermag sie natürlich auch Sinn zu stiften).

Von der Bedeutung der Authentizität in Ausdruck und Begegnung

Sieht man Kunst wie Religion als einen solchen absichtslosen Ausdruck, als Lebensgestaltung, als Kommunikation,5 so wird ihr unableitbarer und nicht funktionalisierbarer, mit dem Wesen des Menschen zusammenhängender autonomer Charakter ebenso deutlich wie ihr Beziehungscharakter. Kunst ist als "Lebensmittel" (Max Reinhardt) Ausdruck der Person wie der Gesellschaft, die damit ihr Leben darstellen, gestalten und in Beziehung zum Leben anderer setzen. Dies wird vor allem auf dem Hintergrund eines anthropologischen Personverständnisses deutlich, das Selbstständigkeit wie Beziehungsangewiesenheit des Menschen gleichermaßen in den Blick nimmt.6

Zeitgenössische Kunst ist oft so etwas wie eine bewusst herbeigeführte Kommunikationsstörung7 und gerade dadurch Ausdruck des Wunsches nach besserem Verständnis und besserer Kommunikation (ähnlich wie es den Propheten aller Zeiten und vieler Religionen ein persönliches Anliegen war, durch Verstörung auf das ursprüngliche Anliegen der Beziehungsgestaltung zu Gott und den Menschen aufmerksam zu machen). Es geht — in der Kunst wie in der Religion — dabei, von einem personalen Gesichtspunkt aus betrachtet, um Klärung, nicht um Erklärung; um Verstehen, nicht um Interpretation; um Mit–teil–ung, nicht um Feststellung; um das Experiment, nicht um die Bestätigung. (Damit ist natürlich nichts gegen die hilfreiche Sachinformation oder die kunstvolle und damit ihrerseits künstlerische Interpretation eines Kunstwerkes — etwa bei der Inszenierung eines Theaterstücks oder einer Kunstbetrachtung etc. — gesagt; solange nur deutlich ist, dass ihr Ziel der Dialog mit Künstler und Kunstwerk ist. Auch hat natürlich die demonstrative Feststellung, das [Sich–]Her– und [Etwas–]Aufzeigen, in Kunst wie Religion ihren Platz, wenn sie personaler Ausdruck, nicht Belehrung ist.)

Anders ausgedrückt: Kunst und Religion wird man nur gerecht, wenn man sie in einem personalen Sinn ebenso als Ausdruck wie als Begegnung versteht. Be–geg(e)n– ung bedeutet, dem Unbekannten gegenüberstehen, sich vom Wesen des Anderen betreffen zu lassen. Es geht also darum, sich vom Anderen anrühren zu lassen, seinen Anspruch zu vernehmen und darauf zu antworten, indem man sich selbst zeigt und seinen eigenen Anspruch anmeldet. Der Künstler ist immer ein Betroffener und sein Kunstwerk ist Antwort auf diese Betroffenheit.

Wer sich selbst und damit als Person ins Spiel bringen will, in der Kirche wie in der Kunst, der will kommunizieren, verstanden werden, in Dialog treten. Nicht umsonst ist das Ziel der Auseinandersetzung mit Religion, ihre höchste Form sozusagen, das Gebet, das direkte Gespräch. In der Kunst ist es nicht anders.

Kunst wie Religion sind damit Ausdruck von und Dialog über Erfahrung. Sie setzen in Bewegung. Nur aus der Betroffenheit und Bewegung heraus können Kunst und Künstler verstanden werden. Kunstverständnis ist wie das Personwerden ein Prozess. Ein Kunstwerk kann aus sich selbst heraus verstanden werden, und es kann aus der Beziehung heraus verstanden werden. Es ist wie beim Personsein: Eines geht nicht ohne das Andere.

Kunst geschieht, wenn die "Mittel zerfallen"

Zurück zur Pastoral. Auch Seelsorgerinnen und Seelsorger können sich gerade in diesem Sinn als Künstler verstehen:8 Aus der Betroffenheit des Glaubens und der Begegnung mit den Menschen gestalten sie engagiert ihr Christsein als Begleitung und Förderung des Christseins ihrer Mitmenschen. In dieser Kunst der Beziehungsgestaltung sind sie wiederum zu authentischem Ausdruck und zu ebensolchen Begegnungen aufgerufen. Sie handeln nicht, um etwas zu erreichen, um damit eine Botschaft zu transportieren oder um ein bestimmtes Ziel zu erlangen, sondern sie werden aus der Begegnung mit Gott und den Anderen bewegt, ihr Leben authentisch zu gestalten. Wie bei Jesus sind bei ihnen Begegnung und Verkündigung nicht zu trennen; diese sind vielmehr in ihrer Person und in ihrer Lebens- und Beziehungsgestaltung eins.

Dasselbe gilt für eine Gemeinde. Seelsorge ist eigentlich die Kunst der Gemeinde, die damit den Raum für authentische Lebensgestaltung und authentischen Ausdruck, für künstlerisches Tun also, bereitet. Hier "zerfallen die Mittel" (Martin Buber), und der Raum wird offen für personale Begegnung untereinander und mit Gott.

Woody Allen lässt in seinem satirischen Einakter "Gott", dem ersten vom "Bretterhaus" aufgeführten Theaterstück, seine Protagonisten unter anderem über die Frage sinnieren, ob man mit einem Stück eine Botschaft vermitteln könne. Die mit Augenzwinkern vorgetragene "Lösung" des Problems lautet: "Wenn ihr eine Botschaft übermitteln wollt, dann wendet euch an die Post."

Anmerkungen

* erschienen unter dem Titel Ein Erfahrungsbericht und eine Schlussfolgerung aus personaler Sicht im Themenheft "Kirche und Kunst " der Zeitschrift Lebendige Seelsorge, 6 (1998) 316–319.
(c) 1998 by Peter F. Schmid


1
Eine ausführliche Darstellung der "Kontaktstelle Kultur", ihrer Geschichte und Tätigkeit findet sich in Schmid 1991b. Hier finden sich auch Thesen zum Verhältnis von Kirche und Kunst.
2 Ders. 1994b (Lit.); 1990.

3 Unter anderem die damals populären Jesus-Stücke wie das Musical "Godspell" und die Rock-Oper "Jesus Christ Superstar" hatten dazu beigetragen. Mehr als 150 000 Zuschauer sahen die etwa 400 "Bretterhaus"-Aufführungen österreichweit; mehr als 1000 Personen wirkten mit — , für diese Zeit gewaltige Zahlen. So war "Jesus Christ Superstar" im Jahr seiner Aufführung, 1985, das Stück mit den zweitmeisten Zuschauerzahlen im gesamten deutschen Sprachraum. Es wurden aber keineswegs nur biblische Themen gespielt, sondern beispielsweise ebenso beide Teile von Goethes "Faust" oder "Hamlet" oder Autoren wie Beckett, Ionesco, Woody Allen, Jean Genet oder Heiner Müller.
4 Schmid 1988.
5 Zum Kunstbegriff vgl. ders. 1989; 1994a, 307–312; 1994c.
6 Ders. 1991a; 1994a.
7 Vgl. Panskus/Panskus 1998.
8 Zur Seelsorge als Kunst: Schmid 1987; 1991c.

Literatur

Panskus, Silvia / Panskus, Gunnar (1998), Klärungshilfe im Museum. Der personzentrierte Ansatz in der Museumspädagogik, in: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1 (1998) 34–37.
Schmid, Peter F.
(1987), Der Seelsorger als Lebens–Künstler, in: Diakonia 2 (1987) 73–78
– (1988), Die Kunst der Menschwerdung oder Ist Ästhetik eine therapeutische Kategorie?, in: Stipsits, Reinhold / Hutterer, Robert (Hg.), Person werden. Theoretische und gesellschaftliche Aspekte des personenzentrierten Ansatzes, Frankfurt/M. (Haag+Herchen) 1988, 23–36
– (1989), "Kunst — ein Lebensmittel". Von der Kunst (in) der Seelsorge, in: Diakonia 1 (1989) 49–55
– (1990), 10 Jahre Bretterhaus, in: Bretterblätter 35 (1990) I-XXIV.(1991)
– (1991a), Souveränität und Engagement. Zu einem personzentrierten Verständnis von "Person", in: Rogers, Carl R. / Schmid, Peter F. , Person–zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis, Mainz (Grünewald) 1991/31998, 15–164
– (1991b), Kunst und Kirche über Kreuz. Eine Analyse, ein Rückblick und ein Plädoyer wider die Banalität, in: bakeb informationen –Kath. Erwachsenenbildung in Österreich 1 (1991) 3-11
– (1991c), Seelsorge — Kunst der Gemeinde. Praktisch–theologische Überlegungen zu Kunst und Pastoral, in: Musik und Leben 1 (1991) 7f, 4 (1991) 6f
– (1994a), Personzentrierte Gruppenpsychotherapie, Bd. I. Solidarität und Autonomie, Köln (EHP) 1994
– (1994b), "Theater im und mit dem Publikum". Das Bretterhaus, in: ders. 1994a, 354–356
– (1994c), Krabbeln, gehen und tanzen. Von der Kunst, Kreativität zu fördern, in: Schmid, Peter F. / Wascher, Werner (Hg.), Towards Creativity. Ein personzentriertes Lese– & Bilderbuch, Linz (edition sandkorn) 1994, 8–19

Autor

Peter F. Schmid, Univ. Doz. HSProf. Mag. Dr., ist Pastoraltheologe, Pastoralpsychologe und Personzentrierter Psychotherapeut. Seit 1979 Leiter des Theaters "Bretterhaus"; 1986–1990 Leiter der Kontaktstelle Kultur, Wien.

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