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Artikel Psychotherapie |
Peter F.
Schmid |
Text
Menschenbild
| Image of the human being
Text
Person
Text Begegnung |
Encounter
Text
Gruppe | Group
Menschenbilder sind als Teil der Weltbilder unreflektierte oder (unsystematisch oder wissenschaftlich-systematisch) reflektierte, nicht beweisbare Modell- und Glaubensannahmen („basic beliefs“), die aus der Erfahrung und durch Auseinandersetzung gewonnen werden. Sie bilden die Basis für Anthropologie, Persönlichkeitstheorie, Motivationstheorie, Theorie der leidenden Person („Störungslehre“) und Therapietheorie.
Personzentrierte Psychotherapie ist die Praxis eines Menschenbildes. Rogers entwickelte es vor allem aus der Reflexion der therapeutischen Beziehungen (daher die Erfahrungsnähe seiner Theorien), aus Herkunft und Erziehung sowie aus der Konfrontation mit gesellschaftlichen, wissenschaftstheoretischen, psychologischen, philosophischen und religiösen Strömungen. Das differenzierte Menschenbild des Personzentrierten Ansatzes ist nicht einheitlich, jedoch im Wesentlichen konsistent. Die endgültige Namensbezeichnung „Person-zentriert“ zeigt, dass für Klient wie Therapeut das Bild des Menschen als Person maßgeblich ist. Dies drückt die Dialektik von Selbstbestimmung (Aktualisierungstendenz) und Beziehungsangewiesenheit (Interpersonalität, Begegnung) aus und begründet letztlich eine ethische Fundierung von Psychotherapie als Verantwortung gegenüber dem Anspruch von Person zu Person. Die theoretisch reflektierte und supervidierte Selbsterfahrung in Beziehungen als Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschenbild ist daher auch zentrales Element für die personzentrierte (als Persönlichkeitsentwicklung verstandene) Aus- und Weiterbildung.
Im Einzelnen können u.a. folgende Einflüsse auf das Menschenbild von Rogers (und für weitere Entwicklungen) ausgemacht werden:
1. wesentliche Elemente jüdisch-christlicher Theologie durch Erziehung, Pastoralpraxis und Theologiestudium (Bibel, Buber, Tillich — Personalität, monokausale Motivationstheorie, Pluralität, Begegnungsorientierung, Wertschätzung als Agape, Ethik, Optimismus, Kritik gegenüber Dogmatisierungen, Spiritualität, politische Dimensionen), weiterentwickelt durch Bowen, Thorne, van Kalmthout, Schmid;
2. einzelne fernöstliche Einflüsse durch Chinareise und Zeitgeist (Lao-Tse, Zen-Buddhismus — Machtverständnis, Absichtslosigkeit, Spiritualität);
3. Modelle aus der Landwirtschaft durch Biografie und Agrarstudium (Erfahrungsorientierung, Organismusmodell);
4. Konzepte klassischer Ontologie und Anthropologie durch Studium (Aristoteles, Thomas — Akt-Potenz-Philosophie, Teleologie);
5. Individualismus und Subjektivismus durch zeitgeistige Kultur des US-Mittelwestens und Psychologiestudium („American Dream“, New Deal, Emerson, Thoreau, Kilpatrick, Dewey — Individualität, Wachstumsorientierung, Pragmatismus, Optimismus, Erfahrungsorientierung, Epistemologie, Selbstkonzept);
6. Phänomenologie und kritische Wissenschaftsphilosophie aus Psychologie, Wissenschaftsverständnis und Reflexion eigener Forschung (Snygg, Combs, Polanyi, Tillich — Epistemologie, Ablehnung des logischen Positivismus, Empirieprimat, Nichtdirektivität, Grundhaltungen), weiterentwickelt durch Gendlin (Experiencing), Pagès, Swildens, Lietaer, Mearns;
7. Existenzphilosophie durch Studentenhinweise und Lektüre (Kierkegaard — Persönlichkeitstheorie, Wahlfreiheit), weiterentwickelt durch Swildens;
8. Personalismus auf dieselbe Weise und durch persönliche Begegnung (Buber — Personbegriff, Begegnung, Kongruenz, Dialog, Präsenz), weiterentwickelt durch Pfeiffer, Schmid (Teilhard, Levinas — personaler Ansatz, ethische Fundierung);
9. Vorläufer von Konstruktivismus und Postmoderne (Bateson — Wirklichkeitskonstruktion, Selbst), weiterentwickelt durch Kriz, Land, Stipsits, O’Hara, Fehringer, Frenzel (Derrida, Lyotard — systemtheoretische und narrative Ansätze, Aktualisierungstendenz, Dekonstruktion);
10. Behaviorismus durch Psychologiestudium (Thorndike — empirische, positivistische Forschung), dann Absetzung davon (Skinner — Selbstbestimmung, innere und äußere Freiheit, phänomenologische Forschung, Ablehnung reduktionistisch-naturwissenschaftlicher Modelle), vorübergehend prominent wieder aufgegriffen von Tausch u.a. („Gesprächspsychotherapie“);
11. Psychoanalyse durch Arbeit an der Child-Guidance-Clinic und Workshops (Rank, Taft — Beziehung, Unbewusstes, Einsicht, Wille) und Absetzung von der klassischen Analyse (Ablehnung von Diagnostik, Deutung, Übertragungsorientierung), radikalisiert von Shlien, späterer Einfluss auf entwicklungspsychologische (Biermann-Ratjen) und integrative Konzeptionen (Finke, van Kalmthout);
12. Ablehnung des schulmedizinischen Modells und der konventionellen Psychiatrie durch akademische Auseinandersetzungen und Wisconsin-Projekt (Gesundheitsorientierung, Ablehnung von Diagnostik und Krankheitslehre, relationale Orientierung), aber Weiterentwicklungen bei Prouty (Merleau-Ponty — Prätherapie), Swildens, Binder (differenzierte Störungsansätze);
13. Humanistische Psychologie durch Forschung, Bekanntschaft und Zusammenarbeit (Allport, Goldstein, Maslow, May, Gestaltpsychologie, Encounter-Bewegung — ganzheitlicher Ansatz, Autonomie, Wahlfreiheit, Aktualisierungstendenz, Empathie, humanistisches Wissenschafts- und Forschungsparadigma, Encounter-Gruppe, Großgruppen, Konflikt- und Friedensforschung), weiterentwickelt durch J.K. Wood, Barrett-Lennard, O’Hara.
Literatur
Hagehülsmann, H. (1990) Begriff und Funktion von Menschenbildern in Psychologie und Psychotherapie. Wissenschaftstheoretische Überlegungen am Beispiel der Humanistischen Psychologie, in: Petzold, Hilarion G. (Hg.), Wege zum Menschen. Methoden und Persönlichkeiten moderner Psychotherapie. Ein Handbuch, Bd. I, Paderborn (Junfermann) 1984; 51990, 9-44
Keil, W. W. / Schmid P. F. (2001), Zur Geschichte und Entwicklung des Personzentrierten Ansatzes. In: Frenzel, P. / Keil, W. W. / Schmid, P. F. / Stölzl, N. (Hrsg.), Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen. Wien, Facultas, S. 15-32
Kirschenbaum, H. (1979): On becoming Carl Rogers. New York: Delacorte
Korunka, C. (1997) (Hrsg.): Begegnungen: Psychotherapeutische Schulen im Gespräch. Dialoge der Person-Centered Association in Austria (PCA). Wien, Facultas, S. 33-56
Korunka, C. (2001): Die philosophischen Grundlagen und das Menschenbild des Personzentrierten Ansatzes. In: Frenzel, P. / Keil, Wolfang W. / Schmid, P. F. / Stölzl, N. (Hrsg.), Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen. Wien, Facultas, S. 33-56
Schmid, P. F. (1995): Personale Begegnung. 2. Aufl., Würzburg, Echter
Schmid, P. F. (1999): Personzentrierte Psychotherapie. In: Slunecko, T. / Sonneck, G. (Hrsg), Einführung in die Psychotherapie. Wien, UTB Facultas, S. 168-211
Schmid, P. F. (2001): "Du sollst dir kein Bild machen". Zum Stellenwert von Menschenbildern in Psychotherapie und Theologie. In: Posch, C., Schuierer, S., Schuierer A.J. (Hrsg.), Leib & Seele, Forum interdisziplinär, Bd. 2: Menschenbilder und ihre Wirkung. Thaur, Thaur, S. 35-62
Schmid, Peter F. (2001): Personzentrierte Persönlichkeits- und Beziehungstheorie. In: Frenzel, P. / Keil, W. W. / Schmid, P. F. / Stölzl, N. (2000) (Hg.), Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen, Wien, WUV, S. 57-95
Schmid, P. F. (2002): Was ist personzentriert? Zur Frage von Identität, Integrität, Integration und Abgrenzung. In: Iseli-Bolle, C. / Keil, W. W. / Korbei, L. / Nemeskeri, N. / Rasch-Owald, S. / Schmid, P. F. / Wacker, P. (Hrsg.), Identität - Begegnung - Kooperation. Köln, GwG
Zurhorst, G. (1989): Skizze zur phänomenologisch-existenzialistischen Grundlegung des personzentrierten Ansatzes, in: Behr, M. et al. (Hrsg.), Jahrbuch für personenzentrierte Psychologie und Jahrbuch 1. Salzburg, O. Müller, S. 21-59
Person
Der für den Ansatz namengebende und sein Menschenbild bestimmende anthropologische Personbegriff stammt aus der jüdisch-christlichen Theologie und der europäischen Philosophie und umfasst zwei Traditionsstränge: Der substanziale Personbegriff betont die Sub-stanzialität (Selbst-ständigkeit), In-dividualität (Unteilbarkeit, Einzigartigkeit), Selbstreflexivität, Freiheit, Autonomie und Würde des Menschen (Boëthius, Thomas, Kant, Husserl, Aufklärung, Scheler, Plessner, Existenzialismus: z.B. Kierkegaard, Jaspers, Guardini, UNO-Menschenrechtsdeklaration, EU Grundrechts-Charta). Ursprünglicher benennt der relationale Personbegriff die Ek-sistentialität, das vorgängige In-Beziehung-Sein und Einander-Gegenüber-Sein, die Beziehungsangewiesenheit, Dialogfähigkeit und Verantwortung zur Solidarität (Kirchenväter, Trinitätstheologie, Augustinus, Richard von St.Viktor, Fichte, Phänomenologie, Teilhard de Chardin, Personalismus: z.B. Buber, Levinas).
Mit dem dialektischen Axiom der Aktualisierungstendenz, die sich erst in einem Person-zentrierten Beziehungsklima entsprechend entfalten kann, schließt Rogers an beide Traditionsstränge in ihrer charakteristischen Spannung an. In der (hypothetischen) „fully functioning person” werden beide Dimensionen des paradigmatisch mit Souveränität und Engagement benennbaren Personseins und Personwerdens als voll verwirklicht vorgestellt: ganz selbst geworden zu sein und gleichzeitig ganz auf die anderen hin offen zu sein. Die Beziehung, die dem Verhältnis „person to person“ entspricht, wird dementsprechend mit dem der abendländischen Tradition entstammenden Begriff „Begegnung“ charakterisiert. Die personzentrierten Grundhaltungen werden als Verwirklichung personaler Qualitäten verstanden. Die personzentrierte Persönlichkeits- und Beziehungstheorie — einschließlich Erkenntnistheorie, Entwicklungspsychologie, Theorie der leidenden Person („Störungslehre“), Therapietheorie (Therapie als Persönlichkeitsentwicklung durch Begegnung) sowie Ausbildungs- und Forschungskonzept —, beruht phänomenologisch und praxeologisch auf dem Verständnis von Personalisation (Personwerdung) als Aktualisierung des Potenzials in der Austragung der genannten Gegensätze im ständigen Gegenüber der Begegnung. Mit der Sicht des Klienten wie des Therapeuten als Person und der Psychotherapie als personaler Begegnung hat Rogers einen bis heute uneingeholten radikalen Paradigmenwechsel von der (ein Objekt) behandelnden zur (einer Person) begegnenden Perspektive in der Therapie vollzogen. Für Persönlichkeitstheorie wie Therapiepraxis gleich bedeutsam ist die Konzeptualisierung der Geschlechterdualität, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Person konkret als Frau und Mann existiert.
Literatur
Rombach, H. (1966) (Hrsg.): Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie. Freiburg i. Br., Herder
Schmid, P. F. (2000): Souveränität und Engagement. Zu einem personzentrierten Verständnis von „Person“. In: Rogers, C. R. / Schmid, P. F (2000): Person-zentriert, Grundlagen von Theorie und Praxis. 4. Aufl., Mainz, Grünewald, S. 15-184, 297-305
Schmid, P. F. (1988): Im Anfang ist Gemeinschaft. Stuttgart, Kohlhammer
Schmid, P. F (1997): Vom Individuum zur Person: Zur Anthropologie in der Psychotherapie und zu den philosophischen Grundlagen des Personzentrierten Ansatzes. Psychotherapie Forum 4, S. 191-202
Schmid, P. F. / Winkler, M. (2001): Die Person als Frau und Mann. Zur Geschlechterdifferenz in Personzentrierter Therapie und Beratung. In: Iseli-Bolle, C. et al. (Hrsg.), Identität - Begegnung - Kooperation. Köln, GwG
Begegnung (encounter) benennt in der Tradition der Begegnungsphilosophie (Personalismus) die Beziehung von Person zu Person. Als zentrales Charakteristikum von Theorie und Praxis genuin Personzentrierter Therapie wird diese damit beziehungs- und erkenntnistheoretisch sowie therapiepraktisch von objektivierend-deutenden, verhaltensmodifizierenden, einseitig systemorientierten und suggestiven Therapieformen abgegrenzt.
Personale Begegnung wird als Sich-betreffen-Lassen vom Wesen des oder der Anderen verstanden. Zu ihren Konstitutiva zählen:
1. Absichtslosigkeit: Begegnung geschieht ohne Zweck, als staunendes Zusammentreffen mit der Wirklichkeit des Anderen.
2. Verantwortlichkeit: Die Bewegung geht stets vom Anderen aus, der mich „anspricht“ („Du-Ich-Beziehung“). Dies wird als „Anspruch“ verstanden, der zur Antwort herausfordert, damit eine fundamentale Ver-antwort-ung begründet und alle Beziehung (Psychotherapie eingeschlossen) ethisch fundiert (Levinas).
3. Anerkennung: Epistemologisch geschieht somit eine An-erkennung des Anderen, der sich mit-teilt und zu erkennen gibt („offen-bart“), statt eines Erkenntnisgewinns über ihn.
4. Gegenüber des Anderen: Die Anerkennung der be-geg(e)n-enden Person als eines gegenüber stehenden („face to face“), prinzipiell Anderen, ermöglicht es, sich überraschen und berühren zu lassen und die Unterschiede zu schätzen: „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wach gehalten zu werden.“ (Levinas)
5. Gegenwärtigkeit (Präsenz): Dem entspricht die authentische („Gegenwärtigsein“), ohne Bedingungen Wert-schätzende („Bestätigung“ als Person), durch einfühlendes Innewerden („Vergegenwärtigung“) stets neu zu gewinnende Haltung der Gegenwärtigkeit als unmittelbares Erleben mit dem Anderen. Ihre bestimmenden Elemente wurden von Rogers für therapeutische Persönlichkeitsentwicklung als notwendige und (zusammen mit drei Rahmenbedingungen) hinreichende Bedingungen beschrieben.
6. Herausforderung: Begegnung hat notwendigerweise mit Wider-Stand zu tun, weil der Andere das Selbst infrage stellt und nicht einordenbar ist.
7. Kairotizität: Begegnung geschieht im Kairos, d.h. ganz in der Gegenwart, den jeweiligen Augenblick als fruchtbare, herausfordernde Chance wahrnehmend.
8. Un-Mittelbar-keit: Begegnung geschieht ohne methodisch oder technisch geplantes Vorgehen. „Nur, wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung.“ (Buber)
9. Leiblichkeit: Begegnung als personal-ganzheitlicher Vorgang ist Berührung, „leibhaftes Zusammenspiel“ (Buber), das den körperlichen Kon-Takt einschließt, setzt daher physische Präsenz voraus und schafft respektvolle Nähe.
10. Spiritualität: Ebenso setzt ihre „spirituelle“ Dimension eine Offenheit für Fragen voraus, die das unmittelbar Erfahrbare transzendieren, und fördert die Auseinandersetzung mit Sinnfragen und Glaubensvorstellungen.
11. Dialog: In der zwischen den Begegnenden entstehenden Welt des „Zwischenmenschlichen“ ereignet sich Dialog, die der Begegnung angemessene Kommunikationsform, als verstehende Konfrontation und Teilnahme am Sein des Anderen. In der dialogischen Spannung von Ganz-auf-den-Anderen-bezogen-Sein (Solidarität) und Ganz-selbst-Sein (Autonomie) entstehen Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichung.
12. Pluralität: Begegnung überschreitet die abgeschlossene Zweisamkeit der Paarbeziehung auf den Plural („Wir“), offen für das Dritte (Thema) bzw. den Dritten (als Chiffre für die Anderen der Anderen; Levinas) und damit für Gruppe (Encounter-Gruppe) und Gesellschaft.
Personzentrierte Psychotherapie ist Persönlichkeitsentwicklung durch Begegnung, in der sich der Therapeut selbst unmittelbar als Person ins Spiel bringt — er ist selbst das einzige „therapeutische Instrument“ — und den Klienten als Person in den Blick nimmt („Person-zentriert“, nicht störungszentriert). Die personzentrierten Grundhaltungen werden als Miteinander-Sein in Gegenwärtigkeit begriffen, d.h. als Bereitschaft, sich der Gegenwart der Anderen in ihrem Anderssein auszusetzen. Psychotherapie ist damit ein Prozess, der sich von einer einseitigen, asymmetrischen Relation über die Begegnungshaltung des Therapeuten in Richtung auf wechselseitige, symmetrische Begegnung bewegt. Rogers: Der Therapeut möchte eine Person kennen lernen, nicht im üblichen Sinne helfen; Hilfe geschieht von selbst, wenn Begegnung gelingt (Buber/Rogers 1984, S.63).
Literatur
Buber, M. / Rogers, C. R. (1984), Carl Rogers im Gespräch mit Martin Buber. In: APG (Hrsg.), Persönlichkeitsentwicklung durch Begegnung. Wien, Deuticke, S. 52-72
Levinas, E. (1983), Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg i. Br., Alber
Rogers, C. R. (1977), Die zwischenmenschliche Beziehung: Das tragende Element in der Therapie. In: Ders., Therapeut und Klient, München, Kindler, S. 180-196
Schmid, P. F. (1994): Personzentrierte Gruppenpsychotherapie. Ein Handbuch. Bd. I: Solidarität und Autonomie. Köln, EHP
Schmid, P. F. (1998): Begegnung von Person zu Person. Zur Beziehungstheorie und zur Weiterentwicklung der Personzentrierten Psychotherapie. Psychotherapie Forum 1, S. 20-32
Schmid, P. F. (2001): Anspruch und Antwort. Personzentrierte Psychotherapie als Begegnung von Person zu Person. In: Keil, W. W. / Stumm, G. (Hrsg.), Der Personzentrierte Ansatz in der Psychotherapie. Die vielen Gesichter der Klientenzentrierten Psychotherapie. Wien, Springer
Encounter-Gruppe
Personzentrierte Encounter-Gruppen („Begegnungsgruppen“) werden (geblockte oder laufende) Therapie- und Selbsterfahrungsgruppen genannt, die entsprechend dem personzentrierten Menschenbild als Möglichkeit zur Begegnung der TeilnehmerInnen von Person zu Person, den „Leiter“ eingeschlossen, stattfinden. Das personzentrierte Klima ermöglicht das Wachstum der Person der TeilnehmerInnen wie die Entwicklung der Gruppe. Diese wird weder als Ansammlung von Individuen noch als Kollektiv, sondern als primäre soziale Gegebenheit und eigenständige, komplexe Größe verstanden. Sie bildet einen Ausschnitt aus der Gesellschaft. Damit hat das Gruppengeschehen eine besondere Nähe zur außertherapeutischen Realität. In der Gruppen-Dynamik werden individuelle und kollektive Phänomene in ihrer wechselseitigen Beeinflussung deutlich.
Ziel ist die Persönlichkeitsentwicklung und die dadurch verbesserte Fähigkeit, mit Problemen umzugehen, sein Leben und seine Beziehungen zu gestalten sowie gesellschaftliche Prozesse zu beeinflussen. Als spezifischer therapeutischer Wirkfaktor (und wichtiges Indikationskriterium) gilt besonders die Vielfalt wechselseitiger korrektiver Beziehungserfahrungen in der Erfahrungsgemeinschaft Gruppe und die dadurch geförderte Selbst-Kohäsion („Therapie durch die Gruppe“). Der Prozess verläuft gruppengesteuert und somit unterschiedlich; spezifische Gruppenprozesserwartungen werden als hinderlich erachtet; die phänomenologische Beschreibung von Prozesselementen (Rogers 1974) wird der Wirklichkeit gerechter als Phasenverlaufsbestimmungen. Setting- und Strukturfragen (Teilnehmerzahl, Zusammensetzung, Heterogenität, Frequenz, Dauer, Raum, Rahmenbedingungen, Facilitator-Zahl, Strukturierungsgrad) werden undogmatisch und kreativ auf der Basis von Vorerfahrungen, Erwartungen und Möglichkeiten individuell entschieden.
Der Gruppen-„Leiter“ versteht sich als Facilitator, als für den Prozess förderliche Person, die selbst aktiver und engagierter Gruppenteilnehmer ist und besonders anfangs eine „clima setting function“ wahrnimmt. Statt Führungs- oder Expertenaufgaben zu übernehmen (und damit den Teilnehmern wegzunehmen), vertraut er dem Potenzial der Einzelnen wie der Gruppe („empowerment“). Als Ausdruck der Un-Mittel-barkeit der personalen Begegnung verwendet er keinerlei geplante oder gezielt strukturierende Methoden, Techniken, Übungen und Spiele. Die Teilnehmer werden nicht nur für den Inhalt, sondern auch für den Prozess als kompetent erachtet. Neben der verbalen können die Gruppenteilnehmer auch andere Kommunikationsebenen, z.B. körperliche, kreative, künstlerische, wählen.
Personzentrierte Gruppenpsychotherapie darf nicht als Anwendung, sondern muss als genuine „Vollform“ Personzentrierter Therapie angesehen werden: Der Mensch ist ein Gruppenwesen, was sich u.a. entwicklungsgeschichtlich (Familie, Schule, Freundeskreis, Arbeitswelt), phylogenetisch (Identitätsbildung geschieht in Gruppen), biologisch (auch leiblich ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen) und anthropologisch (Menschenbild) zeigen lässt. Historisch (von Anfang an arbeitete und bildete Rogers in Gruppen aus) und inhaltlich (Person, Begegnung) ist der Personzentrierte Ansatz von seiner Natur her ein sozialpsychologischer und ein Gruppenansatz. Dementsprechend stellt die Gruppe — Rogers (1974, S.9) zufolge die „vermutlich potenteste soziale Erfindung des 20. Jahrhunderts“ — als Raum der Beziehungsphänomene und Ursprungsfeld sozialer und psychologischer Konflikte den ursprünglichen Ort der personzentrierten Beziehung und damit der Therapie dar. „Einzel“-Therapie ist als Paarbeziehung eine Sonderform der Gruppe. Dies begründet für die Indikationsfrage inhaltlich (nicht nur ökonomisch) einen Primat der Gruppe. Zahlreiche Forschungsstudien belegen ihre Effizienz, gerade auch im klinischen Bereich. Klassisches Beispiel personzentrierter Workshops ist das „La Jolla Programm“ (W. Coulson, D. Land, B. Meador; seit 1967 in Kalifornien, seit 1978 — jetzt als „Austria Programm“ — in Österreich).
Der Gruppe als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft kommt neben der Bedeutung für Selbsterfahrung und als Übungsfeld für soziales Verhalten eine antizipatorische Funktion für gesellschaftliche Reformen, somit eine (demokratie)politische und soziotherapeutische Bedeutung zu. Großgruppen als Lerngemeinschaften sind besonders hinsichtlich der Erforschung intergruppaler Prozesse und interkultureller Kommunikation bedeutsam.
Literatur
Lago, C. / MacMillan, M. (1999) (Hrsg.): Experiences in relatedness. Groupwork and the person-centred approach. Ross-on-Wye, PCCS
Pagès, Max (1974): Das affektive Leben der Gruppen. Eine Theorie der menschlichen Beziehung. Stuttgart, Klett (orig.: 1968)
Raskin, N. (1986): Client-centered group psychotherapy I. Development of client-centered groups; II. Research on client-centered groups. Person-Centered Review 1,3, S. 272-290; 1,4, S. 389-408
Rogers, C. R. (1974): Encounter-Gruppen. Das Erlebnis der menschlichen Begegnung. München. Kindler (orig.: 1970)
Schmid, P. F. (1994): Personzentrierte Gruppenpsychotherapie. Ein Handbuch. Bd. I: Solidarität und Autonomie. Köln, EHP
Schmid, Peter F. (1996): “Probably the most potent social invention of the century”. Person-centered therapy is fundamentally group therapy. In: Hutterer, R. et al. (Hrsg.), Client-Centered and Experiential Psychotherapy. A paradigm in motion. Frankfurt/M, Peter Lang, 611-625
Schmid, P. F. (1996): Personzentrierte Gruppenpsychotherapie in der Praxis. Ein Handbuch. Bd. II: Die Kunst der Begegnung. Paderborn, Junfermann.
Schmid, Peter F. (1998): Im Anfang ist Gemeinschaft. Personzentrierte Gruppenarbeit in Seelsorge und Praktischer Theologie. Stuttgart, Kohlhammer
Wood, J. K. (1988): Menschliches Dasein als Miteinandersein. Gruppenarbeit nach personenzentrierten Ansätzen. Köln, EHP
*Originalfassung der Beiträge zu Stumm, G. / Wiltschko, J. / Keil, W. (Hrsg.), Grundbegriffe der klientenzentrierten und focusingorientierten Psychotherapie, Pfeiffer (Stuttgart) 2002