Artikel Theologie  

Peter F. Schmid

Beratung als Begegnung von Person zu Person
Zum Verhältnis von Theologie und Beratung

in: Nestmann, Frank / Engel, Frank / Sickendiek, Ursel (Hg.), Das Handbuch der Beratung, Bd. I: Disziplinen und Zugänge, Tübingen (dgvt) 2002

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Literatur | References
Version française | Französische Fassung

Überblick

I. Beratung im theologischen und pastoralen Kontext
Zum Verständnis von Beratung
Zum Verständnis pastoraler Beratung

II. Theologische Grundlagen der Beratung
Theologie und Anthropologie: substanziales und relationales Personverständnis
Theologie und Epistemologie: An–Erkennung der Person
Theologie und Praxeologie: Praktische Theologie als theologische Handlungstheorie
Pastorale Praxis: Seelsorge als personale Begegnung

III. Theorie und Praxis pastoraler Beratung
Pastorale Beratung als personale Begegnung und Begleitung – eine Definition
Vom Pastoral Counseling zur personalen Pastoral — ein geschichtlicher Abriss
Von der Beichte zur Online–Seelsorge — Felder pastoraler Beratung
Klinische Seelsorgeausbildung durch Selbsterfahrung, Theorie und supervidierte Praxis — Aus– und Fortbildung für pastorale Beratung
Vom Goodwill zum kompetenten Engagement in strukturiertem Rahmen — Chancen und Probleme der Ehrenamtlichkeit in der pastoralen Beratung

IV. Zukunftsperspektiven der Beratung in Theologie und Pastoral
Eröffnung neuer Beratungsfelder
Zum Spezifikum pastoraler Beratung
Zum interdisziplinären Diskurs
Der Beitrag der pastoralen Beratung zur Beratungswissenschaft und –praxis

Stichwörter

Beratung, pastorale Beratung, Pastoral Counseling, Theologie, Praktische Theologie, Seelsorge, Menschenbild, Erkenntnistheorie, Seelsorgeausbildung (CPT/KSA), Ehrenamt, traditionelle und künftige Felder pastoraler Beratung, interdisziplinäre Zusammenarbeit, personzentrierter Ansatz

Beratung, verstanden als Ausdruck zwischenmenschlicher Solidarität, gehört zum Urbestand von Seelsorge (Pastoral) und hat in den Kirchen eine lange und erprobte Tradition und einen zentralen Stellenwert. Sie reicht vom Gespräch mit dem Beichtvater bis zur Telefonseelsorge, von der Besprechung von Glaubensfragen bis zur Krisenintervention, von der Aussprache mit dem Spiritual in den Priesterseminaren bis zum Pastoral Counseling, von der Beratung im Umfeld der individuellen und der Gruppen–Katechese bis zur Gemeindeberatung. Auch im kirchlichen und generell im religiösen Bereich hat der Bedarf an Beratung in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Beratungsstellen für die verschiedensten Situationen wachsen aus dem Boden, das Erlernen hilfreicher Gesprächsführung gehört mittlerweile weitgehend zum Standard der pastoralen Ausbildung. Heute können die Seelsorge und ihre Theorie, die Praktische Theologie, einerseits auf ihre eigenen Quellen, ihre lang bewährten Erfahrungen und Reflexionen zurückgreifen und an ihre spirituelle und karitative Kompetenz anschließen, andererseits sind sie selbst Bestandteil der modernen Human– und Sozialwissenschaften in Praxis und Theorie geworden, deren Ergebnisse gleichzeitig eine Herausforderung für sie bedeuten.

„Seelenführung“ — heute würde man dies wohl „Lebensberatung“ nennen — war lange eine Domäne der Seelsorger. Psychologie, Psychotherapie und Beratung haben diesen jahrhundertelang unangefochtenen Alleinzuständigkeitsanspruch längst obsolet gemacht; die daraus resultierende Spannung ist, wenigstens zum Teil, dem Dialog und der Kooperation gewichen, wenngleich sich bis heute Rivalität und eifersüchtige wechselseitige Ablehnung bzw. Ignoranz und Ahnungslosigkeit finden.

I. Beratung im theologischen und pastoralen Kontext

Besondere Herausforderungen für die pastorale Beratung ergeben sich gegenwärtig unter anderem durch die veränderte Lebens– und Arbeitswelt in der postmodernen Gesellschaft, das damit einhergehende Flexibilitätserfordernis und die Notwendigkeit lebenslangen Lernens, inmitten eines weltanschaulichen Pluralismus bisher ungekannten Ausmaßes, durch die Tatsache, dass bei anhaltendem, wenn nicht sogar steigendem religiösen und „spirituellen“ Interesse gleichzeitig die Kirchenbindung stark abnimmt und innerhalb der Kirche eine kritische Einstellung ebenso deutlich zunimmt, angesichts verschiedenartiger Modelle zwischenmenschlichen Zusammenlebens im partnerschaftlichen Bereich ebenso wie generationenübergreifend, in Anbetracht einer Unübersichtlichkeit und bisweilen zwangsläufig damit verbundenen Orientierungslosigkeit bei gleichzeitig ansteigenden Informationsangeboten, durch solcherart verursachte Identitätskrisen und zwangsläufig erhöhten Informations–, Orientierungs– und Begleitungsbedarf, durch die kommunikationstechnologischen Umwälzungen und die Möglichkeiten der neuen Medien und last but not least durch Finanzierungsprobleme und Sparbedarf.

Zum Verständnis von Beratung

Im Zeitalter der Spezialisierung und Professionalisierung ist gerade auch im theologischen und pastoralen Bereich genau zu unterscheiden zwischen professioneller Beratung und geregelter Ehrenamtlichkeit auf der einen Seite und jenen Formen von Hilfestellung und Begleitung, die, oft unbemerkt und unbesehen, im Alltag und vermischt mit anderen Tätigkeiten oder eingebettet in sie erfolgen.

In diesem Kapitel ist die Rede von der Beratung durch professionell Ausgebildete und von jener, die in geregelter Tätigkeit durch ausgebildete ehrenamtlich tätige Personen erfolgt. Wie auch sonst im psychologischen, sozialen, sozialarbeiterischen und pädagogischen Beratungsbereich kann hier „unter einer professionell gestalteten Beratung [...] eine wissenschaftlich qualifizierte Problem–, Konflikt– oder Krisenbewältigungshilfe verstanden“ werden, „die über fachliche Informationsvermittlungen, konkrete Hilfen, Ratschläge und Handlungsanweisungen hinausgeht, ganzheitlich orientiert ist und subjektbezogen ansetzt.“ (Straumann 2000, 65) Sie ist zu verstehen als gemeinsame Suche zur Problemlösung auf der Basis von definierten Qualifikations– und Qualitätsstandards unter Anwendung theoretischen Wissens und methodischen Könnens durch kontextgebundene und zielorientierte Stärkung persönlicher Kompetenzen, Erschließung sozialer Potenziale und, soweit möglich. Veränderung problemverursachender Verhältnisse. Ihr Ziel kann als erreicht angesehen werden, wenn Entscheidungen und Alternativen zur Problem–, Konflikt– oder Krisenbewältigung erarbeitet sind, welche die Beratenen bewusst und eigenverantwortlich in ihrem Umfeld treffen und umsetzen können. Qualifizierte Beratungen sollen solcherart die Führung eines gesunden und menschenwürdigen Lebens und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit auch in schwierigen Lebenslagen ermöglichen und sichern. (Vgl. ebd. 65, 56; Sander 1999)

Über diese Definition hinaus ist — zweifellos nicht nur im pastoralen Bereich — die Hilfestellung und Begleitung in Fragen der Lebensgestaltung generell als Feld der Beratung anzuführen, will man sie nicht per definitionem auf Krisen–, Konflikt– und Problemberatung einschränken bzw. den Begriff „Problem“ nicht auf alle Lebenssituationen bzw. –fragen ausdehnen. Denn zweifellos ist die Beratung etwa in Fragen der Einrichtung der eigenen Wohnung oder die spirituelle Begleitung im Rahmen von Exerzitien zur Vertiefung des Glaubenslebens ebenso Gegenstand professioneller Beratung wie dies für konflikthafte und problembeladene Situationen gilt. Beratung setzt also nicht nur in Krisen an; sie ist auch in dieser Hinsicht ganzheitlich, am Leben der Menschen, orientiert.

Zum Verständnis pastoraler Beratung

Pastorale Beratung lässt sich damit vorläufig, in altbekannten, nichtsdestoweniger zutreffenden Worten ausgedrückt, als Hilfe zur Selbsthilfe in Lebens– und Glaubensfragen beschreiben. Je nach dem Kontext, den beteiligten Personen, den Inhalten und den methodischen Ansätzen sind die einzelnen Beratungskonzepte zu differenzieren. Entscheidendes Kriterium jedweden Beratungsansatzes stellt jedoch das Menschenbild dar, das als Fundament und Kriterium für Beratung und ihre Professionalität und Qualität anzusehen ist.

II. Theologische Grundlagen der Beratung

Theologie und Anthropologie: substanziales und relationales Personverständnis

Nach jüdisch–christlichem Verständnis ist der Mensch, von Gott geschaffen, „Bild Gottes“ (Gen 1,27), womit die Frage nach dem Menschen immer zugleich die Gottesfrage ist und umgekehrt. Die christliche Theologie der Menschwerdung (Inkarnation) ist der radikalste Ausdruck dieser Frage nach dem Menschen und nach Gott.

Menschliches und göttliches Sein werden einerseits als unauslotbares Geheimnis der jeweiligen Existenz „aus und für sich“ verstanden: Damit werden Autonomie, Selbstständigkeit, Souveränität, „Mysterium“ und Gott als der Grund allen Seins angesprochen. Andererseits werden sie, und zwar gleichursprünglich, als „Sein–Mit“ und als „Sein–Für“ verstanden: Das Miteinander–Sein kommt unter anderem in den theologischen Begriffen Schöpfung, Bundestheologie, Inkarnation und Koinonia (Communio, Gemeinschaft) zum Ausdruck, das Füreinander–Sein schlägt sich beispielsweise in der Rede von Offenbarung, Proexistenz oder Liebe nieder.

So bedeutet der Gottesname „Jahwe“ (Ex 3), als Antwort auf die Frage genannt, wer dieser Gott sei, wörtlich „Ich bin der Ich–Bin“ und betont damit die Souveränität. Er wird dem Mose aber in einem eindeutig dialogischen Kontext mitgeteilt und heißt somit gleichzeitig „Ich bin der, der ich für dich bin, der ich für dich da bin und da sein werde“. Ebenso weisen seine Bezeichnung als „Immanuel“ (= „Gott–mit–uns“) oder der Name „Jesus“ (= „Gott hilft“) auf die konstitutive Verbundenheit und Solidarität Gottes mit den Menschen hin.

In der Reflexion der Erfahrungen mit Jesus von Nazareth, der als das Wort Gottes an die Menschen verstanden wird, wurde die Beziehungs– und Gemeinschaftsnatur Gottes (Trinität) und des Menschen näherhin durch den in der Theologie entwickelten und von ihr und der Philosophie weiterentwickelten Personbegriff charakterisiert. Mit der Trinitätstheologie („Drei–Einigkeit“) wurde der einzige und einzigartige Gott, „der in unzugänglichem Licht wohnt“ (1 Tim 6,16), gleichzeitig als von Anfang an gemeinschaftlicher verstanden, und zwar sowohl in sich selbst als auch in Bezug auf sein Verhältnis zu den Menschen: Er ist selbst Gemeinschaft, hat Gemeinschaft mit den Menschen und stiftet deren Gemeinschaft (Koinonia).

Für den Personbegriff entwickelten sich über die Jahrhunderte dementsprechend zwei Traditionsstränge: ein substanzialer und ein relationaler.

Wo immer mit Person vorrangig ihre Selbstständigkeit und unaustauschbare Einzigartigkeit, ihre Freiheit und Würde, ihre Einheit, ihre Souveränität und Selbstbestimmung, ihre Verantwortlichkeit, die von den Vereinten Nationen deklarierten Menschenrechte usw. verbunden wird, wird die Tradition des substanzialen Personbegriffs sichtbar. Das ist auch gemeint, wenn der Mensch von Anfang an und unabhängig von seiner physischen oder psychischen Gesundheit und Entwicklung als Person bezeichnet wird. Personsein heißt, so verstanden, Aus–sich–Sein und Für–sich–Sein.

Wenn Person von der Beziehung her verstanden wird, aus der Partnerschaft, aus dem Dialog, aus der Verbindung zur Welt, von ihrer Angewiesenheit auf Andere her, wenn sie im Ganzen der Gemeinschaft und damit in ihrer Verantwortung gesehen wird, geschieht dies in der Tradition des relationalen Personbegriffs. Personsein heißt demnach Aus– und In–Beziehung–Sein, Von–Anderen–her– und Für–Andere–Sein, Auf–Andere–angewiesen–Sein.

Der in der jüdisch–christlichen Tradition entwickelte Begriff der Person bezeichnet somit dialektisch Individualität und Beziehungsorientierung, Solidarität und Autonomie, Souveränität und Engagement und bietet die Grundlage für die im 19. und 20. Jahrhundert ausgearbeiteten existenz– und begegnungsphilosophischen Orientierungen, die neben der Phänomenologie zu den wichtigsten Wurzeln der Humanistischen Psychologie im Allgemeinen, des Personzentrierten Ansatzes im Besonderen zählen. (Rogers/Schmid 1991; Schmid 1994; 1998)

Theologie und Epistemologie: An–Erkennung der Person

Da menschliche Erfahrungsdeutung immer als Interpretation der Wirklichkeit und somit auch als Konstruktion verstanden wird, liegen auch die Wurzeln konstruktivistischen Denkens, das etwa für analytische oder humanistische Erkenntnistheorie konstitutiv ist, in einem Glauben, der die Wahrheits– und Wirklichkeitsfrage einzig an Gott festmacht: In Bezug auf den allein Absoluten ist alles menschliche Denken und Verstehen relativ und vorläufig, kann kein einzelner und keine Gruppe die Wahrheit für sich beanspruchen.

Damit werden von vornherein deutende und interpretierende Beratungskonzepte ebenso relativiert wie das Verständnis der Beraterin oder des Beraters als eines Experten, der weiß, was für andere gut, richtig und heilsam ist. Wenn also angesichts des Verständnisses, dass alle „Söhne und Töchter“ desselben Gottes sind, von einer prinzipiellen Gleichrangigkeit der Menschen untereinander ausgegangen wird, werden „hierarchische Beratungskonzepte“ fragwürdig und letztlich obsolet. Dies spiegelt sich geschichtlich in der Entwicklung zu einem begegnungsorientierten Verständnis von Seelsorge wie pastoraler Beratung ebenso wider wie in der zunehmenden Bedeutung der Gruppe in der Seelsorge allgemein und für die Gemeinden im Besonderen. Ebenso ist es in jenen Ansätzen von Beratung reflektiert, die als Selbsterfahrung in und aus der Begegnung verstanden werden (siehe unten).

Im Gegensatz zu autoritär–interpretativen Ansätzen werden christlich–theologisch bzw. personal Erkennen und Verstehen als gesamtpersonale Handlung aus der Haltung des Mitseins in Liebe begriffen, sind also, anders ausgedrückt, nur durch Empathie aus der Begegnung möglich. Statt der Erkenntnis (über den anderen) wird epistemologisch die An–Erkennung zur Grundlage des Verstehens und der Förderung personaler Entwicklung. Parallel dazu wird „Selbsterfahrung“ als Selbsterkenntnis in Beziehungen in der Tradition von Augustinus als die je größere Offenheit für das eigene Innere verstanden, wodurch sie mit der Erfahrung Gottes, der „mir näher ist als ich mir selbst bin“, zusammen gesehen wird.

Unter anderem in der jüdisch–christlichen Anthropologie und Epistemologie liegen also die — von den Theoretikern und Praktikern in Psychotherapie und Beratung freilich höchst selten thematisierten — Grundlagen des Verständnisses der Basiseinstellungen zur Förderung von Selbstverständnis, Persönlichkeits– und Beziehungsentwicklung, wie sie radikal von Carl Rogers (1961) nicht nur als „notwendig“, sondern ausdrücklich als „hinreichend“ beschriebenen und für die Beratung operationalisiert wurden: Authentizität, bedingungsfreie Wertschätzung (die Rogers selbst als „Liebe“ im Sinne der biblischen Agape identifiziert) und Empathie. (Vgl. u.a. Joh 8,32; Röm 15,7; Hebr 5,2.) Diese können als Aspekte respektive Dimensionen einer Grundhaltung der Person gesehen werden, die als Gegenwärtigkeit bzw. Präsenz die Voraussetzung für personale Begegnung und kairotisches Handeln (d.h. offen für den jeweiligen fruchtbaren Augenblick und seine Möglichkeiten) bildet. (Vgl. Schmid 1996; 1998)

Theologie und Praxeologie: Praktische Theologie als theologische Handlungstheorie

Wie das Gottesverständnis erfahrungsbezogen entwickelt wurde (Israels Volkwerdung als Identitätsentwicklung durch die Selbstmitteilung Jahwes; das christliche, trinitarische Gottesbild als Reflexion der Beziehungserfahrungen mit Jesus und „in seinem Geist“), ist auch die daraus entwickelte Handlungstheorie christlicher Praxis erfahrungsorientiert: Praktische Theologie (auch Pastoraltheologie, d. h. Seelsorgetheorie, genannt — wobei „Seele“ ebenso den ganzen Menschen meint, wie es für „Psyche“ in der Psycho–Therapie gilt) als Reflexion der (implizit oder explizit) in der Tradition Jesu stehenden Praxis nimmt die jeweilige Praxis selbst als Ausgangspunkt theologischer Theorieentwicklung. Im methodischen Dreischritt „sehen – urteilen – handeln“ verfolgt sie ihr Ziel, nämlich durch kritische Gegenwartsanalyse (Kairologie: „sehen“), gemessen am Handeln Jesu sowie an dem daraus erwachsenden Menschen– und Gottesverständnis (Kriteriologie: „urteilen“), zu einer je menschengerechteren weiterzuentwickeln (Praxeologie: „handeln“). Dieses wissenschaftstheoretische Selbstverständnis als Handlungswissenschaft (d.h. sie beruht auf einem induktiven Ansatz, bedient sich empirischer Methoden, ist interdisziplinär orientiert und vermittelt Orientierungshilfen) teilt die Praktische Theologie unter anderem mit Beratungs– und Psychotherapietheorien. Als empirische Handlungswissenschaft ist sie zum Teil selbst an der Entwicklung der Human– und Sozialwissenschaften beteiligt und tritt ansatzgemäß mit den anderen Disziplinen in Dialog (siehe unten). (Schmid 1998; vgl. Haslinger 1999/2000.)

Pastorale Praxis: Seelsorge als personale Begegnung

Das pastoraler Praxis zugrunde liegende Seelsorgeverständnis hat sich in den letzten Jahrzehnten bedeutsam weiterentwickelt: Seelsorge wird in einem personalen Sinn („personale Seelsorge“) — diesfalls neben theologischer Reflexion explizit angestoßen durch Humanistische Psychologie, personalistische Tiefenpsychologie und personale Anthropologie — nicht länger als Belehrung und Betreuung durch die eigens dafür von der Hierarchie bestellten Experten (bis vor kurzem vornehmlich Priester), auch nicht als Beratung im Sinn des „Rat Gebens“, sondern als Begegnung begriffen.

Dieser Paradigmenwechsel zu einem Verständnis von „Seelsorge als personaler Begegnung“ entstand auf der Basis eines sozialen Verständnisses der Trinität, der Communio–Ekklesiologie und eines am Begriff der Person mit seiner substanziellen wie relationalen Dimension orientierten Menschenbildes (z.B. bei Romano Guardini, Bernhard Welte, Josef Goldbrunner, Hans Rotter, Martin Buber und Emmanuel Levinas) im Gefolge von Personalismus und Existenzphilosophie sowie in der Tradition des Personzentrierten Ansatzes der Humanistischen Psychologie. Seelsorge ist demnach die Einzel–, Gruppen– und Gemeinde–Pastoral umfassende, wechselseitige, herausfordernde und Leben fördernde Begegnung von Christinnen und Christen als solidarische Praxis der Sorge um und Begleitung von personaler Entwicklung im Glauben und im entsprechenden Handeln. Mit einem Wort: Seelsorge ist die wechselseitige Unterstützung der Christinnen und Christen beim Christsein. (Vgl. Lk 10,9; 24,17; Röm 1,12; 1 Joh 3,16; 1 Petr. 5,3.)

So ist in erster Linie jeder Christ Seelsorger, jede Christin Seelsorgerin. Diejenigen, die Seelsorge als Beruf oder ehrenamtliche Tätigkeit praktizieren, haben vor allem fördernde Aufgaben. Dem Amt, nunmehr tatsächlich als Dienst statt als „(heilige) Herrschaft“ („Hierarchie“) verstanden, kommt eine die Kommunikation der Vielfalt ermöglichende („einheitsstiftende“) und somit die geistgewirkten Ressourcen mobilisierende Aufgabe zu. Macht wird daher als Ermächtigung im Sinne des Empowerment–Konzepts verstanden.

In der Praxis der Seelsorge bedeutet dies eine Hinwendung zu Gespräch und Gruppe, zu Communio und Communicatio, ein neues Selbstverständnis von christlicher Lebenspraxis in ihrerseits aus Face–to–Face–Gruppen bestehenden Gemeinden, deren Koinonia sich konkret zeigt in Martyria (wechselseitige, zeugnishafte Verkündigung durch Praxis und Lehre), Leiturgia (Feier und symbolhafte [„sakramentale“] Vergegenwärtigung, „Gottesdienst“) und individueller wie politischer Diakonia (solidarisches Engagement, „Dienst am Nächsten und an der Gesellschaft“). (Schmid 1998)

III. Theorie und Praxis pastoraler Beratung

In diesem emanzipatorisch–inkarnatorischen Kontext, besonders natürlich im diakonalen Bereich, ist Beratung theologisch und pastoral anzusiedeln, wobei die tatsächlich vorfindbare kirchliche Praxis in vielen Fällen (und nicht selten auch weit) hinter den theologischen Ansprüchen und Vorgaben zurückbleibt — ein Befund, den sie allerdings mit Beratung in anderen Feldern teilt.

Denn auch wenn Vieles an de facto vorzufindender Praxis in der Kirche und in der von wenig erleuchteten Hierarchen als alleinig wahr ausgegebenen kirchlichen Lehre den biblischen Grundlagen allzu oft zu widersprechen scheint, auch wenn es ernsthafter theologischer Prüfung nicht standhält, prägt es doch die öffentliche Meinung von Theologie und Kirche nachhaltig und hat auch immer noch bedeutenden politischen Einfluss. Allerdings rechtfertigt dies auch nur wenig erleuchtete Berater, solches mit dem Christsein im Sinne Jesu zu verwechseln und Theologie und Christentum daher pauschal abzulehnen.

Pastorale Beratung als personale Begegnung und Begleitung – eine Definition

Der angeführten Theologie und Anthropologie entsprechend versteht sich die Beraterin bzw. der Berater in der Seelsorge als Begleiter auf dem (Lebens– und Glaubens–)Weg ihrer bzw. seiner Mitchristen und –christinnen, d. h. als Facilitator („Erleichterer, Ermöglicher“) zur Persönlichkeitsentwicklung und Problembewältigung.

Professionelle pastorale Beratung ist demnach eine auf der Basis des christlichen Menschen– und Gottesbildes stattfindende, personale Begegnung, die Menschen bei ihren Lebensfragen (die die Glaubensfragen einschließen) begleitet und sie in Emanzipation fördernder Weise unterstützt. Das bedeutet, dass das Ziel dieser wissenschaftlich fundierten, methodisch praktizierten und an Qualifikations– und Qualitätsstandards orientierten Tätigkeit die eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens und die möglichst selbstständige Lösung von Problemen ist. Die Beraterin bzw. der Berater verstehen sich dabei als Facilitator im Sinne einer Fördererin bzw. eines Förderers, zu deren Aufgaben in subsidiärer Weise auch die Hilfestellung bei fachlichen Informationen und in konkreten Situationen und, falls möglich, die Veränderung problemverursachender Verhältnisse zählen. Pastorale Beratung ist ein seelsorgerlicher Dienst, der als Einzel–, wie als Gruppen– und Gemeindeberatung, stets, zumindest implizit, im sozialen und theologischen Kontext der Koinonia der Gemeinde stattfindet. Sie wird in verschiedenen Kontexten, zu verschiedenen Inhalten und Anlässen, einmalig, kurz–, mittel– oder langfristig, nach verschiedenen methodischen Ansätzen und in unterschiedlichen Settings angeboten.

Pastorale Beratung ist von anderen Interventionsformen in der Seelsorge, wie Religionsunterricht, Katechese, Verkündigung (innerhalb und außerhalb der Liturgie), Gruppendynamik, Sozialarbeit, Psychotherapie, vielen Formen des karitativen Engagements usw. zu unterscheiden, wenngleich die Trennlinien nicht immer exakt zu ziehen sind.

Vom Pastoral Counseling zur personalen Pastoral — ein geschichtlicher Abriss

Die Entwicklung im 20. Jahrhundert zeigt signifikante Parallelen und Interdependenzen zwischen Theologie, philosophischer Anthropologie und Psychologie. Eigenständige pastoraltheologische und pastoralpsychologische Ansätze trafen sich mit der Psychologie und Psychiatrie. Neben psychoanalytischen und systemischen Konzeptionen waren es vor allem die Konzepte der Humanistischen Psychologie, und hier wieder besonders der Personzentrierte (Klientenzentrierte) Ansatz, die den meisten Einfluss auf das Selbstverständnis pastoraler Beratung ausgeübt haben. (Vgl. I. Baumgartner 1990a, b)

Die besondere Bedeutung des Personzentrierten Ansatzes, begründet vom US–amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers (1961) um die Mitte des 20. Jahrhunderts, für die pastorale Beratung ergibt sich unter anderem aus der Erfahrungsorientiertheit, Praxisnähe und Verständlichkeit in der Terminologie, aber insbesondere aus der in vielem verwandten Anthropologie: So sind beides ganzheitlich–personale Ansätze, die Parallelen zwischen dem Konzept der Persönlichkeitsentwicklung durch eine konstruktive–aktualisierende Tendenz bei entsprechenden Beziehungsbedingungen und der redemptiven, inkarnatorischen Theologie sind tief gehend; die Bedeutung der sozialen und politischen Dimension von Beratung bzw. Seelsorge wird auf beiden Seiten hervorgehoben usw. Freilich müssen hier auch die Unterschiede betont werden, wie sie sich aus der Natur der beiden Disziplinen ebenso ergeben wie in den jeweiligen konkreten Ansichten (etwa über das Phänomen und den Stellenwert des Bösen).Von jeder billigen wechselseitigen Vereinnahmung muss dabei natürlich Abstand genommen werden.

Analog zur Entstehung der Humanistischen Psychologie gab es in den USA eine breite sogenannte Seelsorgebewegung („Pastoral–Counseling–Bewegung“), die unter anderem das Clinical Pastoral Training (CPT) als selbsterfahrungsorientiertes Klinisches Praktikum für die Aus– und Weiterbildung der Seelsorger generell, für die pastorale Beratung („Pastoral Counseling“) im Besonderen, entwickelte. Ihre Wurzeln reichen sogar in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts, also vor die Anfänge der Humanistischen Psychologie zurück. Im Gegensatz zu etlichen humanistischen Ansätzen standen dabei aber — nicht zuletzt unter den Einflüssen Martin Bubers und Paul Tillichs — von allem Anfang an kommunikative und interaktionelle Aspekte im Zentrum des Seelsorgeverständnisses, somit lag von Beginn weg das Hauptaugenmerk auf der Beziehung („relationship“). Dies gilt sowohl für die Individualseelsorge (Anton T. Boisen, Richard Cabot und Russel Dicks, Wayne E. Oates) wie für die Gruppen– bzw. Gemeindeseelsorge (Howard J. Clinebell, Joseph W. Knowles, Thomas C. Oden), die ihre Entsprechung in der Encounter–Bewegung findet. So kam es bald zu einer Reihe fruchtbarer Querverbindungen (Seward Hiltner) und kritischer Auseinandersetzungen (Paul Johnson, Thomas C. Oden), wie dies im Übrigen auch mit der ähnlich eigenständigen Entwicklung in der Sozialarbeit (Casework) stattfand. (Vgl. Stollberg 1969.)

In den deutschen Sprachraum fanden die personzentrierten Pastoralkonzepte — lange vor der breiten Rezeption von Rogers im psychotherapeutischen Bereich — Eingang über die Benelux–Länder (Heije Faber, Ebel van der Schoot, Wybe Zijlstra, Wiel Claessens, Raymond Hostie, André Godin) und es entstanden seit den Siebzigerjahren die Klinische Seelsorgeausbildung (KSA) und ein pastorales und pastoraltheologisches Verständnis mit einer beträchtlichen Nähe zu humanistischen Prinzipien, zunächst vor allem im evangelischen (z.B. Dietrich Stollberg, Matthias Kroeger, Helga Lemke), später auch im katholischen Bereich (z.B. Alwin J. Hammers, Heinrich Pompey, Josef Schwermer, Peter F. Schmid). Die Telefonseelsorgestellen haben dabei oft Pionierarbeit geleistet (z.B. Helmut Harsch, Wilfried Weber). In der Praxis finden sich allerdings nicht selten technikorientierte Wünsche nach Rezepten für Gesprächsführung und Gruppenleitung, die auch durch verkürzende Rezeptionen entsprechend befriedigt werden (und beide Seiten in Misskredit bringen).

Weniger bekannt als die Pastoral–Counseling–Bewegung wurde die im protestantischen Raum angesiedelte Interpersonale Theologie (Ross Snyder, Robert C. Leslie, Arnd Hollweg), die von allem Anfang an die Gruppe und deren Prozess sowie die damit zusammenhängende ekklesiologische Orientierung in den Mittelpunkt rückte. Sozialpsychologisch an Kurt Lewin und seinem Versuch der Überwindung des Gegensatzes von Metaphysik und Positivismus orientiert und der Gruppendynamik verbunden, wurde sie mit verschiedenartigen theologischen Richtungen verknüpft. Sie entfaltete eine Theologie des Gemeindeprozesses („dynamische Ekklesiologie“), den sie in Entsprechung zum Gruppenprozess als dynamisches Feld interpersonaler Beziehungen und Wechselwirkungen versteht. Die Klassische Gruppendynamik wurde auch im deutschen Sprachraum für die Gruppenberatung rezipiert (Karl Frielingsdorf, Günther Stöcklin, Karl–Wilhelm Dahm u.a.)

Erwähnt sei auch noch der Einfluss der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth Cohn (Matthias Kroeger, Matthias Scharer) und der Gestalttherapie (Karl Heinz Ladenhauf).

Im psychoanalytischen Bereich, in dem unter anderem die Balintgruppen für Seelsorger entstanden sind, stehen Joachim Scharfenberg, Hans–Joachim Thilo, Richard Riess, Hans–Christoph Piper, Werner Becher, Dieter Funke, Hermann Stenger, Eugen Drewermann u.a. für einschlägige pastoralpsychologische Beratungskonzepte. (Ausführliche Literaturangaben zu den Autoren in Schmid 1998)

Von der Beichte zur Online–Seelsorge — Felder pastoraler Beratung

Exemplarisch seien neben den bereits genannten einige traditionelle und neu entstandene Beratungsfelder erwähnt: Ehe– und Familienberatung bzw. Partnerschaftsberatung, Beratung in Schwangerschaftskonflikten, Erziehungsberatung, Beratung für Alleinerziehende und Alleinstehende, Frauen– und Männerberatung, Beratung in Krisensituationen, Beratung für den Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen, für Senioren, Trauerbegleitung, in Glaubensfragen, für geistliche Berufe (Seminare, Noviziate), Beratung in der Krankenseelsorge, Beratung in der Arbeit mit Randgruppen (Obdachlose, Suchtpatienten usw.), bei Suizidgefahr, für Behinderte, Strafentlassene, Migranten und Asylwerber usw.

Ein „klassisches“ Modell pastoraler Beratung, lang vor jedem Beratungsboom entstanden, stellt das beratende Einzelgespräch bei der Beichte (Bußsakrament) dar. In Zusammenhang mit Sakramenten (etwa das Taufgespräch mit Eltern und Taufpaten) und Lebenswenden (z.B. Ehevorbereitung, Todesfall bzw. Begräbnis) wird seelsorgliche Beratung traditionell angeboten. Die „geistliche Begleitung“ als spirituelle Beratung hat eine uralte Tradition und bot eine qualifizierte Begleitung, lange bevor die Beschäftigung mit Spiritualität und Esoterik zur Mode wurde.

Ein aktuelles, bewährtes und exemplarisches Modell pastoraler Beratung, das sich in kurzer Zeit großflächig etabliert hat, bietet etwa die Telefonseelsorge als Notrufdienst und Krisenberatung. Ähnlich haben sich Beratungs–„Inseln“ in Großstädten, die, zentral gelegen, anonym aufgesucht werden können, bewährt.

Neueren Datums sind das systematische Angebot zur Supervision (für Einzelpersonen, Gruppen und Teams) bzw. zum Coaching (zumeist für Personen in Leitungsfunktionen) sowie die Gemeindeberatung als Organisationsberatung im kirchlichen Kontext. Gegenwärtig in Entwicklung begriffen sind Angebote pastoraler Mediation. Online–Beratung, bislang zum Teil von Telefonseelsorgestellen wahrgenommen, ist auf dem Weg, sich zu einem eigenständigen Sektor zu entwickeln und wird in Bedeutung und Umfang gewaltig zunehmen, die traditionellen Settings jedoch nicht ablösen, sondern ergänzen. Ebenso wie in der Telefonseelsorge bietet dabei die Möglichkeit, anonym zu bleiben, einen wichtigen Anreiz. (Vgl. Baumgartner/Müller 1990.)

In der Praxis spielt in allen diesen Fällen die Frage der Indikation eine wichtige Rolle: Personal formuliert muss sie lauten: Kann sich die Beraterin bzw. der Berater mit der Klientin, dem Klientin oder den Klientinnen und Klienten auf eine förderliche Beratungsbeziehung derart einlassen, dass unter den gegebenen Umständen diesen kompetente Hilfestellung geboten werden kann?

Institutionell sind die Träger organisierter Beratung im pastoralen Bereich neben privaten Vereinen einerseits die Caritas bzw. Diakonie, andererseits die Pastoral– bzw. Seelsorgsämter. Daneben sind die Pfarreien mit ihren haupt– und ehrenamtlichen Mitarbeitern eine bedeutsame Anlaufstelle für Beratungsvorgänge verschiedenster Art. Längst werden zahlreiche Einrichtungen auf ökumenischer Basis von mehreren Kirchen gemeinsam getragen, in zahlreichen Fällen auch kooperativ von kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen.

Klinische Seelsorgeausbildung durch Selbsterfahrung, Theorie und supervidierte Praxis — Aus– und Fortbildung für pastorale Beratung

Die Wichtigkeit professioneller Ausbildung wurde im pastoralen Bereich relativ früh erkannt. Die bereits erwähnten Ausbildungsgänge in der Klinischen Seelsorgeausbildung, wie sie seit dem frühen 20. Jahrhundert entwickelt wurden, boten die Grundlage und das Modell für einschlägige Lehrgänge in Seminaren und an Hochschulen bzw. Universitäten, die die erforderliche pastoralpsychologische Kompetenz in Theorie und Praxis vermitteln.

Universitär und diözesan organisierte Ausbildungskurse zur Her–Aus–Bildung und Weiterentwicklung sozial–kommunikativer und spirituell–begleitender Kompetenz fördern durch Selbsterfahrung, theoretische Inhalte und supervidierte Praxis und Praktika (z.B. Klinisches Praktikum) die nötige Entwicklung der Persönlichkeit und vermitteln die entsprechenden Kenntnisse für eine qualifizierte Beratungstätigkeit. In diesem Zusammenhang findet durch die Verbindung mit der theologischen Ausbildung die Vernetzung der Praxis mit den anthropologisch–philosophischen und ethischen Grundlagen (Menschenbild) meist grundlegender und nachhaltiger statt, als dies in vielen anderen Beratungsausbildungen der Fall ist.

An dieser Stelle sei auf den wichtigen Unterschied zwischen psychotherapeutischer und Beratungsausbildung (und –tätigkeit) hingewiesen. Bei einer psychotherapeutischen Ausbildung zusätzlich zum theologischen Studium und zur Seelsorgepraxis allein fehlt es an der Vermittlung und Erprobung beratungsspezifischer Charakteristika, wie sie zuvor dargestellt wurden. Eigene Beratungsausbildungsgänge für den pastoralen Dienst sind daher unabdingbar.

Die entscheidende Bedeutung von Fort– und Weiterbildung zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung steht in diesen Zusammenhängen außer Frage. Für Qualität und Professionalität ist außerdem die wissenschaftlich fundierte Forschung im Bereich pastoraler Beratung und Ausbildung wichtig.

Vom Goodwill zum kompetenten Engagement in strukturiertem Rahmen — Chancen und Probleme der Ehrenamtlichkeit in der pastoralen Beratung

Der grundlegende Strukturwandel in der Arbeitsgesellschaft bringt unter anderem auch ein neues Verständnis sozialer wie pastoraler ehrenamtlicher Tätigkeit mit sich. Nach wie vor gibt es freiwilliges, unbezahltes Engagement; die alten, traditionellen Formen und Aufteilungen der Arbeit jedoch sind brüchig geworden: etwa, dass Männer bezahlt, Frauen aber unbezahlt in Gesellschaft und Kirche arbeiten oder dass Männer in leitender Position und Frauen nachgeordnet sind. Immer mehr ersetzt Selbstbestimmung die Unterordnung und das Gefühl moralischer Verpflichtung. Ehrenamtliche lassen sich nicht mehr ohne Weiteres als Lückenbüßer für fehlende bezahlte Arbeitskräfte einsetzen. Umgekehrt ist selbstständiges Handeln von Freiwilligen dort verstärkt zu finden, wo die traditionellen Seelsorgeformen zerfallen, wie dies beispielsweise durch den Priestermangel bedingt ist. Eigeninitiative in überschaubaren und flexiblen Sozialformen, z.B. Initiativ– und Projektgruppen, tritt oftmals anstelle fix geregelter Mitarbeit in Großorganisationen. Die zunehmende theologische Reflexion und das Wissen um Ausbildung und Qualitätsbedarf lassen jene Formen von Tätigkeit fraglich werden, die „bloß gut gemeint, aber nicht gut gemacht“ sind.

Wer sich in der Kirche im Beratungsbereich unentgeltlich engagiert, muss erwarten können, dass ihm die Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt werden, die für qualitativ wertvolle Arbeit erforderlich sind, wie z. B. Ausbildung, Praxisanleitung, Supervision, Fortbildung, genaue Arbeitsbeschreibung bzw. Absprache über den Tätigkeitsbereich und Zeitaufwand usw. Dabei ist es besonders wichtig, darauf zu achten, dass Supervision und Fortbildung durch Außenstehende angeboten wird, um eine subtile Kontrolle der Ehrenamtlichen durch deren „vorgesetzte“ Hauptamtliche zu vermeiden. Höchst problematisch ist auch die Ersetzung bezahlter professioneller Tätigkeit durch ehrenamtlich Tätige, besonders wo dies zur Überforderung führt.

Das pastorale Ehrenamt lässt sich damit als selbst gewähltes, kompetentes, unbezahltes, strukturiertes, öffentlich akzeptiertes Engagement in der Seelsorge zugunsten anderer definieren. Es hat im pastoralen Beratungsbereich eine zentrale Bedeutung; viele Angebote, etwa die Telefonseelsorge, sind davon abhängig. Eine große Bedeutung kommt ihm auch zu, weil die unbezahlte Tätigkeit Unabhängigkeit und Freiraum und damit ein wichtiges institutionskritisches Potenzial ermöglicht.

IV. Zukunftsperspektiven der Beratung in Theologie und Pastoral

Eröffnung neuer Beratungsfelder

Es ist davon auszugehen, dass der Stellenwert und die Bedeutung von Beratungsangeboten und –vorgängen in der Seelsorge aufgrund des gesellschaftlichen und kirchlichen Wandels im Sinne der zuvor dargestellten praktisch–theologischen Perspektive weiter zunimmt. Wie bisher wird der pastorale Sektor dabei sensibel für neuen Beratungsbedarf und gesellschaftlich noch nicht abgedeckte Bereiche sein und vielfach dort subsidiär einspringen, wo ein entsprechendes Manko besteht; umgekehrt werden jene Felder weniger abzudecken sein, die auf der Basis staatlicher oder privater Institutionalisierung oder durch Selbsthilfe anderweitig inzwischen ausreichend versorgt sind.

Neben den schon erwähnten Bereichen wird generell der Beratungsbedarf für die „Modernisierungsverlierer“ in den verschiedensten Gebieten zunehmen und für die Kirchen im Sinne der Option für die „Armen“ eine bleibende Herausforderung darstellen. Wie in anderen Beratungsbereichen wird sich der Bedarf auch im präventiven Bereich deutlich verstärken und es wird sowohl aus diesem Grund als auch in Einklang mit der beschriebenen theologischen und anthropologischen Konzeption das Angebot an ressourcenorientierten, persönlichkeitsfördernden und auf Empowerment basierenden Beratungsangeboten stark zu steigern sein.

In vielen Bereichen werden die pastoralen Beratungsangebote mit der Glaubwürdigkeit der Kirchen und ihrer Institutionen stehen und fallen. Überall dort, wo lebens–, gesellschafts– und entwicklungsfremde Positionen dogmatisch vertreten werden, ohne den Fortschritt in Wissenschaft und Gesellschaft zu berücksichtigen, werden die entsprechenden Dienste immer weniger in Anspruch genommen. Dies ist gegenwärtig etwa im Bereich der Sexualität in der katholischen Kirche vielfach der Fall. Wo sich der Verdacht auf ideologisch festgefahrene Positionen bzw. Doppelmoral einstellt, kommt es rasch zu einem generellen Vertrauensverlust. Andererseits ist, beispielsweise im geschlechterspezifischen Bereich, gerade im kirchlichen und theologischen Kontext (Feminismus, neues Selbstverständnis der Männer) viel geschehen und sind entsprechende Impulse ausgegangen, die Glaubwürdigkeit zu fördern und zu stärken vermögen.

Zum Spezifikum pastoraler Beratung

Für die Beziehung zwischen den Humanwissenschaften und der Theologie ergeben sich neben den befruchtenden Parallelen eine Reihe von wechselseitigen kritischen Anfragen aus dem jeweiligen Menschenbild, dem jeweiligen Wirklichkeitsverständnis und den Sinnentwürfen.

Statt gegenseitiger Vereinnahmung ist Respekt voreinander, kritischer Diskurs und gegenseitige Lernbereitschaft angesagt. Dem arroganten Klischee auf der einen Seite, dass Psychotherapie und Beratung die Seelsorge ersetzten, entspricht auf der anderen Seite das Klischee, dass diese bloß Hilfswissenschaften bzw. –tätigkeiten seien. Während einerseits Seelsorge nicht selten auf Beratung reduziert wird, ist andererseits in Theorie und Praxis eine nahezu völlige Tabuisierung religiöser Themen vorzufinden. Weder ist Seelsorge bloß Psychotherapie und Beratung im kirchlichen Kontext, noch sind Psychotherapie und Beratung ärztliche (oder laikale) Seelsorge; das jeweilige Proprium ist verschieden. Dieser Unterschied ist auch nicht vorschnell an der „Jenseits“–Dimension oder einem „spirituellen“ Inhalt festzumachen (wiewohl dies auch Dimensionen pastoraler Beratung sind).

Psychotherapie und Beratung gehen vielmehr im Gegensatz zur Seelsorge — bei aller Postulierung prinzipieller Gleichheit — von einem Beziehungsgefälle zwischen Berater und Klient in Hinblick auf die beratungsrelevante Lebenssituation und Betroffenheit und von zeitlich begrenzter Intervention aus und sind bei aller Wechselseitigkeit auf eine Person (oder Personengruppe) fokussiert. Seelsorge als Begegnung von Person zu Person aus christlichem Selbstverständnis ist lebenslanges Miteinander. 

Wo die Beratungsansätze jenseits therapeutischer oder beratender Tätigkeit menschliches Zusammenleben als solches in den Blick nehmen, somit personale Ansätze werden und sich damit anthropologischen, gesellschaftlichen und politischen Fragen stellen, ist der Unterschied zwischen Lebensberatung im Allgemeinen und pastoraler Beratung im Wesentlichen in der je spezifischen Interpretation der Erfahrungen zu sehen. Hier ist es die individuelle Lebensdeutung, der Sinnentwurf einer Person oder Gruppe, der dann personal zu nennen ist, wenn er den Wert der Person über alles stellt und Erkenntnisgewinn auf Begegnung basierend versteht. Christlich wird er, indem er sich auf den Lebensentwurf des Jesus von Nazareth und damit dessen Menschen– und Gottesbild bezieht und seine Praxis daran messen lässt — gleich, ob dies nun explizit thematisiert wird oder nicht.

Zum interdisziplinären Diskurs

Für den Diskurs zwischen Theologie und Beratungswissenschaften, die in Vielem inhaltlich und formal verwandt sind (z.B. der Mensch als „Gegenstand“, Theorie–Praxis–Problem, Selbstverständnis als Handlungswissenschaft, Hermeneutik), in anderen Bezügen ganz unterschiedlich (z.B. inhaltliche und methodologische Voraussetzungen und Grundannahmen zum Wirklichkeitsverständnis, Gottesfrage, Umgang mit Empirie, Deutungsperspektiven), sind jedenfalls die Paradigmata von „Hilfswissenschaft“ und „Anwendung“ (und zwar von beiden Seiten her) ebenso ungeeignet wie vonseiten der Theologie jenes der „Fremdprophetie“ (d. h. außerhalb der Kirche wird Wesentliches des Eigenen in Erinnerung gerufen), weil sie erneut instrumentalisieren und funktionalisieren. Ebenso greifen von Beratungsseite die Paradigmata „Entmythologisierung“ und „Säkularisierung“ zu kurz und die Ausflüge in die „Spiritualität“ durch Berater entlarven diesbezüglich nicht selten eine beträchtliche Naivität. (Schmid 1998)

Sowohl die Psychologisierung theologischer und pastoraler Themen als auch die „Taufe“ psychologischer Inhalte stellen, wissenschaftstheoretisch gesehen, eine simple Reduktion dar, was auch für Versuche zur Verschmelzung der beiden verschiedenartigen Disziplinen gilt. Quasireligiöse Metaphern in der Beratungstheorie führen ebenso wenig weiter wie pseudopsychologische Seelsorgetheorien.

An dieser Stelle zeigt sich, dass oft die der Beratung zugrundeliegende Anthropologie eine (im Vergleich zur Jahrtausende alten Theologie angesichts einer einige Jahrzehnte alten Geschichte verständliche) relative Oberflächlichkeit und einen mangelnden Tiefgang aufweist und, etwa in Bezug auf die Sinnfrage, die Institutionenreflexion, die Ethik, die Frage nach dem Bösen oder nach kollektiver Verfasstheit und Verhaftetheit, um nur einige Beispiele zu nennen, noch einen gewaltigen Denkbedarf hat. Umgekehrt ist in einem säkularen Kontext und praxisrelevant von Beratung, Psychotherapie und Sozialpsychologie herausgearbeitet worden, wovon theologische Rede voll, Handeln von Christen jedoch viel zu oft geradezu skandalös leer oder den Anspruch konterkarierend ist.

Wo das Disziplinen verbindende Gespräch gelingt, kann es geradezu als Musterbeispiel für interdisziplinäre Zusammenarbeit gelten. Die Auseinandersetzung im Dialog mit wechselseitiger Respektierung der jeweiligen Identität und Integrität, die mutuelle Anerkennung der jeweiligen Unterschiede sowie der kritische Diskurs bilden auch hier nicht nur die Voraussetzung, sondern auch eine Herausforderung zur Begegnung.

Was für den wissenschaftlichen Diskurs gilt, gilt ebenso für die Praxis: Auch hier ist ein interdisziplinäres und kooperatives Berufsverständnis — von beiden Seiten — erforderlich. Modellhaft ist solche Vernetzung im pastoralen Bereich bislang vielfach geschehen.

Unverzichtbare Voraussetzung für die weitere Entwicklung ist die Anerkennung der Bedeutung von Methoden– und Settingvielfalt, die auch im Bereich pastoraler Beratung dem Bedürfnis nach einfachen Lösungen und Konzepten querliegt.

Wie in anderen Beratungsbereichen ist also der interdisziplinäre Diskurs zur Theorieentwicklung und Praxisoptimierung und die Fortführung der Konzipierung eines eigenständigen Selbstverständnisses nötig, wenn pastorale Beratung in Professionalität und Qualität angeboten, weiterentwickelt und optimiert werden soll.

Der Beitrag der pastoralen Beratung zur Beratungswissenschaft und –praxis

Nicht nur aufgrund gelungener Kooperationsmodelle, sondern auch durch die reichhaltige Erfahrung und vor allem die Grund–legende Anthropologie können die Erfahrungen und Reflexionen aus dem pastoralen Beratungsbereich einen Beitrag zur Beratungswissenschaft insgesamt leisten. Eine der Konsequenzen aus der metatheoretischen Betrachtung und der anthropologisch–epistemologischen Grundlegung pastoraler Beratung, ist, die Bedeutung der Ethik für die Beratung einzumahnen.

Beratung ist unter ethischen Gesichtspunkten als Ant–Wort auf den An–Spruch hilfsbedürftiger Personen zu verstehen, woraus sich der Aufforderungscharakter für Beratung und die Ver–Antwort–lichkeit des Beraters ergeben (Schmid 1996).

Wo immer Beratung “philosophiefeindlich“ oder einseitig effektivitäts– und effizienzorientiert zur Technologie und Ware am Psychomarkt zu degradieren droht, wird gerade aus ethischen Gründen Einspruch anzumelden sein. Dies gilt für verantwortungsbewusste Ausbildung ebenso wie für qualitätssichernde und –steigernde Maßnahmen. Qualität und Professionalität zeigen sich nämlich, zumindest auf der Basis des hier skizzierten Beratungsverständnisses, nicht in der Ansammlung und Optimierung von Methoden und Techniken aufseiten der Beraterin oder des Beraters oder in der vorschnellen Bedürfnisbefriedigung aufseiten des Klienten oder der Klientin und in der Bedarfsbefriedigung des Marktes, sondern im emanzipatorischen Anspruch von Beratung — eine ethische Herausforderung, die sich für alle Bereiche von Beratung ergibt.

Literatur

*Baumgartner, Isidor (1990a), Pastoralpsychologie. Einführung in die Praxis heilender Seelsorge, Düsseldorf (Patmos)

Baumgartner, Isidor (1990b) (Hg.), Handbuch der Pastoralpsychologie, Regensburg (Pustet)

*Baumgartner, Konrad / Müller, Wunibald (1990) (Hg.), Beraten und begleiten. Handbuch für das seelsorgliche Gespräch, Freiburg i. Br. (Herder)

Haslinger, Herbert (1999/2000) (Hg.), Praktische Theologie, 2 Bde., Mainz (Grünewald) 

*Rogers, Carl R., On becoming a person, Boston (Houghton Miffin) 1961; dt.: Entwicklung der Persönlichkeit, Stuttgart (Klett) 1973

*Rogers, Carl R. / Schmid, Peter F. (1991), Person–zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis, Mainz (Grünewald), 4. Aufl. 2000

Sander, Klaus (1999), Personzentrierte Beratung. Ein Arbeitsbuch für Ausbildung und Praxis, Köln/Weinheim (GwG/Beltz) 1999

Schmid, Peter F. (1994/1996), Personzentrierte Gruppenpsychotherapie. Ein Handbuch, Bd. I: Solidarität und Autonomie, Köln (EHP) 1994; Personzentrierte Gruppenpsychotherapie in der Praxis. Ein Handbuch, Bd. II: Die Kunst der Begegnung, Paderborn (Junfermann) 1996

– (1998), Im Anfang ist Gemeinschaft. Personzentrierte Gruppenarbeit in Seelsorge und Praktischer Theologie. Beitrag zu einer Theologie der Gruppe, Stuttgart (Kohlhammer)

Stollberg, Dietrich (1969), Therapeutische Seelsorge. Die amerikanische Seelsorgebewegung, Darstellung und Kritik, München (Kaiser), 3. Aufl. 1972

*Straumann, Ursula (2000), Professionelle Beratung. Bausteine zur Qualitätsentwicklung und zur Qualitätssicherung, Heidelberg (Asanger) 2000

Mit * gekennzeichnete Titel werden als Lesehinweise empfohlen.

Wissenschaftliche Vereinigungen

Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie
D-80336 München, Landwehrstraße 15 Rgb./1
E-Mail: kontakt@pastoralpsychologie.de

Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen
c/o Johannes–Gutenberg–Universität, FB 01, Prof. Dr. Knobloch
D-55099 Mainz, Saarstraße 21

Institut für Personzentrierte Studien (IPS)
A-1030 Wien, Dißlergasse 5/4
E-Mail: akademie@ips-online.at

Internet

www.pastoralpsychologie.de
www.pastoraltheologie.de
www.pca-online.net

 

Autor

Peter F. Schmid, Univ.Doz. HSProf., Mag. Dr.,
Praktischer Theologe und Pastoralpsychologe, Personzentrierter Psychotherapeut und Supervisor, Leiter des Referats für Psychotherapie, Supervision und pastorale Beratung der Erzdiözese Wien, Begründer personzentrierter Ausbildung in Österreich, Leiter und Ausbilder an der Akademie für Beratung und Psychotherapie des Instituts für Personzentrierte Studien (IPS der APG), Wien. Arbeitsschwerpunkte: Pastoralpsychologie, Gruppenarbeit, Grundlagenforschung zum Personzentrierten Ansatz. Zahlreiche Bücher und Fachartikel aus den Bereichen Theologie, Beratung und Psychotherapie.

 

Review

   Ihren Beitrag "Beratung als Begegnung" (im Handbuch der Beratung) habe ich mit sehr viel Gewinn gelesen - eine ebenso logische wie einfühlsame Perspektive. Ich bin sehr beeindruckt
Günter G. Bamberger , Tübingen