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Peter F. Schmid

Sadomasochismus
Anmerkungen eines Psychotherapeuten

Aus dem Programmheft zur BRETTERHAUS FRONTAL Produktion "Die Zofen" *

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Überblick

Sadomasochismus für Otto und Mizzi Normalverbraucher
Sadomasochismus für Anfänger
Sadomasochismus für Etymologen
Sadomasochismus für Freudianer und solche, die es werden wollen
Sadomasochismus für Objektbeziehungstheoretiker
Sadomasochismus für personzentrierte Theoretiker
Sadomasochismus für Machthaberer
Sadomasochismus für Dienstbeflissene, Beamte und ähnliche Österreicher
Sadomasochismus für Chefs und Sekretärinnen
Sadomasochismus für Politiker
Sadomasochismus für Journalisten, Filmemacher und Quotenmaximierer
Sadomasochismus für Liebespaare
Sadomasochismus für Sexbesessene
Sadomasochismus für Sadomasochisten
Sadomasochismus für Theaterbesucher
Liebe für Sadomasochisten



Für Nichttherapeuten (und –therapeutinnen; immer sind im folgenden natürlich beide Geschlechter gemeint) eine Bemerkung vorweg: Man kann an etwas unter ethischen Gesichtspunkten herangehen. Und unter phänomenologischen. Anders gesagt: Man kann sich etwas auch erst genau anschauen, bevor man es verurteilt (oder gut findet).
Psychotherapeuten reklamieren für sich, letzteres zu tun. Daß sie das nicht von gesellschaftlichen und ethischen Stellungnahmen entbindet, wissen sie. (Manchmal übersehen sie es auch. Und dann wundern sie sich, wieso sich andere wundern, daß man so denken kann...)
Deshalb eine Klarstellung zu Beginn: Sadomasochismus ist ein vielschichtiges Phänomen. Es macht einen Unterschied, was man damit bezeichnet:

Zwar haben alle drei etwas miteinander zu tun (das merkt man selten so gut wie gerade bei Genet); dennoch bezeichnen sie Unterschiedliches. Und sind ethisch unterschiedlich zu qualifizieren.
Und ebenso klar wie die ethische Ablehnung jedweder Gewalttat, in der einer einem anderen gegen dessen Willen Leid zufügt, zu erfolgen hat, ebenso klar ist festzuhalten, daß es wenig Sinn macht, ein Phänomen pauschal zu verurteilen oder zu tabuisieren.
Psychotherapeutische Hilfe (für Opfer wie für Täter) aber, das verstehen vielleicht auch Nichttherapeuten, kann auch denen besser geboten werden, die zu Gewalttaten neigen oder unter ihnen zu leiden haben, wenn man die zugrundeliegende Persönlichkeits– und Beziehungsdynamik versteht. Und deshalb ist es auch für die Ethik wichtig, das Phänomen zu studieren.
Dieses ist überdies, beschäftigt man sich erst einmal damit, viel weiter verbreitet, als so mancher (auch so mancher Therapeut) denkt. Und es ist nicht nur ein psychologisches, vielmehr auch ein soziales und politisches Phänomen. Auch das ist bei Genet fokussiert.
Viele Menschen leiden unter sadomasochistischen Beziehungen (verschiedenster Art). Weit mehr, als auch tatsächlich den Weg in die Psychotherapie finden. Es ist mir sehr wichtig zu betonen, daß ich ihnen allen mit großem Respekt begegne. Nicht zuletzt, weil einige Klientinnen und Klienten mich an ihrem Schicksal Anteil haben ließen und ich sie in ihrem Bemühen, mit traumatisierenden Erfahrungen fertig zu werden, Schuldgefühle zu verarbeiten oder sich entsprechende Neigungen zuzugestehen und in ihrem Leben kreativ etwas daraus zu machen, begleiten durfte.
Aber es gibt nicht nur Personen, die darunter leiden. Es gibt auch solche, die mit Kreativität, Umsicht und Behutsamkeit sich selbst und anderen gegenüber ihre sadomasochistischen Seiten lustvoll leben, ohne damit anderen zu schaden. Oder dies lernen.
(Und dann gibt es natürlich solche, für die Sadomasochismus nur im Fernsehen, im Lokalteil der Zeitung oder in der Kriegsberichtserstattung existiert, mit ihnen selbst aber auch schon gar nichts zu tun hat. Doch, so nehmen wir einmal an, dazu zählen Sie sicher nicht, sonst hätten Sie sich wohl kaum in dieses Theaterstück verirrt ...)

Aus einer Seminarreihe in der Psychotherapieausbildung zum Thema der sogenannten Perversionen, einer Fallstudie und nicht zuletzt aus der Arbeit an zwei Genet–Stücken im folgenden also einige Gedanken– und Zitatsplitter. Nicht immer todernst, versteht sich.
Und noch etwas: Auch nur annäherende Vollständigkeit ist hier selbstredend unmöglich (aber Zwanghaftigkeit ist ja auch nicht eigentlich unser Thema).

Sadomasochismus für Otto und Mizzi Normalverbraucher

Sadomasochismus ist für manche ein höchst reizvoller, für andere ein unbeschreiblich abstoßender Gedanke: Zu Sadomasochismus fallen dem Durchschnittsbürger Domina und bizarre SM–Spiele mit Fesseln und Peitschen ein. Und mit dem Ettikett »psychopathisch« wird er wohl nicht lange zögern. Der Psychoanalytiker denkt an Beziehungsmuster aus frühen Objektbeziehungen, die sich in unbewußtem Einverständnis manifestieren und damit eine Wiederholung ungelöster ödipaler Konflikte darstellen. Der Kinobesucher erinnert sich an Mickey Rourke und Kim Basinger.
Apropos, Herr und Frau Normalverbraucher, ein Hinweis: Überlegen Sie es sich gut, mit einem Psychotherapeuten, den Sie auf der nächsten Party oder so treffen, über dieses Thema zu sprechen! Es könnte sein, daß Sie es bereuen, wenn er, statt Ihre »bloß theoretische« und »nur so einfach neugierige« Frage zu beantworten, mit der Aufzählung von -zig Beispielen aus dem Sadomasochismus des Alltagslebens und –liebens daherkommt und Sie sich plötzlich ein paar Dinge selbst zu fragen beginnen ...
Oder haben Sie schon einmal an Sadomasochismus gedacht, wenn Sie sich im Vorspiel gerne kneifen und fest drücken oder gar beißen lassen oder wenn Sie Spaß daran finden, jemanden geil zu machen und es dann möglichst lange hinauszögern?

Sadomasochismus für Anfänger

Vorsicht beim Weiterlesen und –denken! Sie könnten etwas spüren, daß sich bei näherem Zusehen womöglich als Lust entpuppen könnte. Was dann?
Also:

Sadomasochismus für Etymologen

Nun, die Paten sind ja bekannt: Sadismus wurde vom Psychiater Kraft–Ebbing nach dem französischen Marquis de Sade, Masochismus nach dem — ob das wohl ein Zufall ist? — Österreicher Leopold Sacher–Masoch benannt.

Sadomasochismus für Freudianer und solche, die es werden wollen

Wir halten uns streng (!) an die offiziellen Quellen: Perversion bezeichnet die »Abweichung in bezug auf den normalen Sexualakt«, der definiert wird als Koitus mit der Person des entgegengesetzten Geschlechts mit dem Ziel, durch genitales Eindringen zum Orgasmus zu kommen« (Laplanche/Pontalis, 377f). Sadismus wird als jene sexuelle Perversion angesehen, bei der die Befriedigung an das dem anderen zugefügte Leiden oder an dessen Demütigung gebunden ist (ebd. 447), Masochismus an jene, bei der die Befriedigung an das Erdulden von Leid oder Demütigung geknüpft ist (ebd. 304). Sadomasochismus ist dementsprechend der »Ausdruck, der nicht nur hervorhebt, was bei den beiden Perversionen symmetrisch und komplementär sein kann, sondern der auch ein fundamentales Gegensatzpaar bezeichnet, und dies sowohl in der Entwicklung als auch in den Manifestationen des Sexuallebens. Aus dieser Perspektive wurde der Ausdruck, der in der Sexuallehre verwendet wird, um kombinierte Formen dieser beiden Perversionen zu bezeichnen, in der Psychoanalyse, besonders in Frankreich von Daniel Lagache, wieder aufgegriffen, um das gegenseitige Verhältnis der beiden Positionen sowohl im intersubjektiven Konflikt (Beherrschung – Unterwerfung) als auch in der Strukturierung der Person (Selbstbestrafung) hervorzuheben.« (Ebd. 448).
»Ein Sadist ist immer auch gleichzeitig ein Masochist, wenngleich die aktive oder die passive Seite der Perversion bei ihm stärker ausgebildet und seine vorwiegende sexuelle Betätigung darstellen kann.« (Freud 1905, 59)
»Sadismus und Masochismus nehmen unter den Perversionen eine besondere Stellung ein, da der ihnen zugrunde liegende Gegensatz von Aktivität und Passivität zu den allgemeinen Charakteren des Sexuallebens gehört.« (ders. 1915)
»Beim Masochismus versetzt ›sich das passive Ich phantastisch in seine frühere Stelle, die jetzt dem fremden Subjekt überlassen ist‹. Ebenso ergibt sich beim Sadismus, während man anderen Schmerzen zufügt, daß man ›selbst masochistisch in der Identifizierung mit dem leidenden Objekt genießt‹. (Freud)« (Laplache/Pontalis, 449f)
Das »Gegensatzpaar Aktivität – Passivität, das sich vollkommen in dem Gegensatz Sadismus – Masochismus wiederfindet«, wird von Freud als »eine der großen Polaritäten betrachtet, die das Sexualleben des Subjekts charakterisieren«. Es findet sich »in den späteren Gegensatzpaaren phallisch – kastriert und maskulin – feminin« wieder. [Anmerkung: Dies ist einer der Gründe, warum gerade Feministinnen Freud so unwiderstehlich anziehend finden ...] Die intersubjektive Dimension des Sadomasochismus wurde von Freud entdeckt, besonders in der Dialektik von sadistischem Über–Ich und masochistischem Ich.« (Ebd. 450f)

Sadomasochismus für Objektbeziehungstheoretiker

Das kann's doch nicht gewesen sein? Ist es auch nicht.
Die Analytiker haben weitergedacht.
Otto Kernberg (1988) sieht Perversität als den Gebrauch der Liebe im Dienst der Aggression, als das Ergebnis der Vorherrschaft des Hasses über die Liebe, die ihren wesentlichen Ausdruck im Niederreißen der Grenzen findet, welche normalerweise eine Liebesbeziehung schützen (ders. 1985). Liebe und Haß sind in der Entwicklung der emotionalen Beziehung von Paaren in ihrer Wechselwirkung aufeinander unlösbar miteinander verknüpft. Das Wechselspiel von Liebe und Aggression ist konstitutiv für den Aufbau und die Konstanz emotionaler Beziehungen und spielt eine wesentliche Rolle für ein funktionierendes Sexualleben in Liebesbeziehungen und für die sexuelle Erregung. Sie ist von Liebe wie von Aggression bestimmt; aggressive Elemente werden in den Dienst der sexuellen Erregung gestellt. (Kernberg 1991, 797) Sadomasochismus wird als »wesentliches Element des normalen sexuellen Funktionierens und der Liebesbeziehungen sowie des eigentlichen Wesens der sexuellen Erregung« (ders. 1993, 319) und als »grundlegende Komponente aller anderen perversen Elemente der Sexualität« (ebd. 324) gesehen. Als spezifisch ausgestaltete Perversion ist er dadurch bestimmt, daß es der Lust aus Schmerz als Vorbedingung sexueller Befriedigung bedarf (ders. 1993).
Nach Kernberg (1991) hat Sadomasochismus auch mit dem Wunsch zu tun, die Differenz zwischen den Geschlechtern aufzuheben.
Mehr und mehr setzt sich also auch unter Analytikern die Auffassung durch, daß sadomasochistische Phänomene nicht über einen Leisten geschlagen werden können, sondern daß es »verschiedene sadomasochistische Syndrome, vergleichbar Homosexualitäten, im Rahmen unterschiedlicher [psychischer] Strukturen und Funktionen« gibt (Blum 1991, 448; vgl. Glick/Meyers 1988; Calogeras 1994).

Sadomasochismus für personzentrierte Theoretiker

Der Personzentrierte Ansatz, begründet von Carl Rogers, versteht den Menschen prinzipiell nicht von Krankheit und Fehlfunktion, sondern vom Gesunden und Ganzen, von der Tendenz zur Aktualisierung seines Potentials (Aktualisierungstendenz) her. [Für die meisten Personzentrierten Therapeuten und Theoretiker übrigens Grund genug, sich erst gar nicht mit solchen Kleinigkeiten aufzuhalten, wie einzelne Phänomene theoretisch zu untersuchen ...]
Psychisches Leiden wird jeweils individuell als Inkongruenz zwischen organismischem Erleben und dessen Symbolisierung begriffen. Wie die Psychoanalyse wertet der Personzentrierte Ansatz nicht; anders als die Psychoanalyse verzichtet er auch auf Interpretation, Diagnose und Klassifikation zugunsten von wertschätzendem, empathischem Verstehen aus einer authentisch gestalteten Beziehung heraus. Somit interessiert also nicht der Sadomasochismus schlechthin, sondern die konkrete Lebensgestaltung einer Person, ihre Art zu lieben, zu leiden und Leid zuzufügen eingeschlossen. Sadomasochismus kann unter einem personalen Blickwinkel als eine Beziehungsform verstanden werden, in der Liebe und Aggression — immer sind es beide, die eine Beziehung gestalten — in besonderer Weise untrennbar miteinander verbunden sind: Die Steigerung der einen bewirkt eine Steigerung der anderen und umgekehrt.
Ausgehend von einem personzentrierten Verständnis von Sexualität (Schmid 1995a; 1996b) als »Potenz«, d. h. als machtvolle Möglichkeit der Verwirklichung der Person in Beziehungen, und von Aggression als Sicherung der Balance von Identität und Differenz und Bedingung für personale Begegnung (ders. 1995b), ist die enge und spezifische Verbindung von Sexualität, Macht und Aggression, wie sie sich in sadomasochistischen Beziehungskonstellationen zeigt, Ausgangspunkt für deren Verstehen: So wird »Be–Mächt–igung« (in ihrer Spannung zu »Be-geg[e]n-ung«) zu einem Schlüsselwort für den Zugang zum Verständnis sadomasochistischer Beziehungsgestaltung (ders. 1995c).Die verschiedenen Ausprägungen der Sexualität — auch viele der sogenannten Perversionen — sind aus personzentrierter Sicht primär als Spielarten der Aktualisierung, nicht als Ausdrucksformen von Inkongruenz zu begreifen. Insofern sind sadomasochistische Konstellationen Teil jeder Liebesbeziehung; sogenannten abweichendes Sexualempfinden und –verhalten — abgesehen von der nötigen Hinterfragung, von welcher Norm es abweicht — ist nie generell feststellbar. Es ist nur dann als Inkongruenz anzusehen, wenn die betroffene Person ihre Erfahrungen nicht korrekt zu symbolisieren imstande ist.
Sexuelle »Perversionen« (im wörtlichen Sinn als Umkehr dessen verstanden, weswegen die Beziehung eingegangen und gestaltet wird) sind dann als Inkongruenz anzusehen, wenn sie nicht im Dienst der Aktualisierungstendenz der Person stehen oder wenn sie nicht in das Selbst der Person integriert sind. Dann handelt es sich um einen Widerstreit zwischen Selbstaktualisierungstendenz und Aktualisierungstendenz, um eine Inkongruenz zwischen Selbst (Lustkonzept) und Erfahrung (wobei es vielfach zu einer »Abspaltung« der von der Aktualisierungstendenz ausgehenden Impulse kommt, die dann dem Betreffenden selbst fremd erscheinen), und die Person leidet in der Regel darunter. Auslösend dafür sind neben chronifizierter Beziehungsgestaltung aus Abwehr vor Neuem zumeist gesellschaftliche Normen. Nur die Akzeptanz der Impulse, also der organismischen Aktualisierungstendenz, ihrer Kraft (Potenz) und ein Vertrauen in deren konstruktive Tendenz, und nicht deren Bekämpfung oder der Versuch ihrer Beseitigung kann daher zu größerer Kongruenz führen.

Sadomasochismus für Machthaberer

Im Sadomasochismus steht also Lust an Macht und Machtausübung im Vordergrund, nicht unbedingt Sex.
»Macht«, werden Sie nun vielleicht einwenden, wenn Sie sich ohne einschlägige Vorbildung bis hierher tapfer durchgeschlagen haben, »pfui! Welch garstiges Wort? Wem darf es denn schon um Macht gehen!« Doch, urteilen Sie, bitte, nicht vorschnell ...
Aus der Sicht einer personzentrierten Anthropologie bedeutet Macht nämlich vorwiegend die Fähigkeit (Potenz), andere zu »er–mächt–igen«, nicht sie einzuschränken (wie Macht oft definiert wird) oder zu »be–herr–schen«. Herrschaft ist Mißbrauch von Macht. Macht als Ermächtigung dient hingegen grundsätzlich der Erweiterung von Handlungsspielräumen, steht also im Dienst von Freiheit (im Sinne von Selbstbestimmung und –verantwortung) und Kreativität (im Sinne der Erweiterung von Möglichkeiten), Sicherheit und Frieden. Bei anderen wie bei sich selbst.
Entsprechend ist die »Lust an der Macht« im Sinne von Freude und Genuß am eigenen Vermögen, an der eigenen Potenz nicht a priori negativ zu sehen. Sie ist nicht mit »Lust an Herrschaft« zu verwechseln, die ihre Befriedigung im Mißbrauch von Macht findet, also darin, andere zu unterdrücken oder Abhängigkeitsverhältnisse zu genießen und damit Freiheit und Kreativität anderer einzuschränken. (Vgl. Schmid 1996b)
Mächtig, lieber Chef und liebe Chefin, sind Sie also dann, wenn Sie ihre »Mitarbeiter« (von denen Sie ja doch als »Untergebene« denken), was können und was werden lassen, nicht wenn Sie sie »im Griff« haben ...
Und nun einige Schlag–worte (wo die ein–schlägige Sprache nicht überall durch–schlägt ...) und eine ganz kleine Auswahl sadomasochistischer Phänomene (in umgekehrter Reihenfolge der eingangs gemachten Aufstellung).

Sadomasochismus für Dienstbeflissene, Beamte und ähnliche Österreicher

Pflichterfüllung, Unterordnung und Gehorsam sind nicht unbedingt nur Tugenden. Aufmüpfigkeit übrigens ebenso wenig.

Sadomasochismus für Chefs und Sekretärinnen

Ich will mich natürlich nicht in Ihre Arbeitsbeziehungen einmischen. Aber haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was da sonst noch alles dabei ist, wenn er sie karnifelt und seine Wut an ihr ausläßt und sie ihn dafür »umbringen« könnte? Oder wenn der obligate Flirt (erwartungsgemäß) damit endet, daß er sie oder sie ihn »angelehnt« läßt (einfach so)?
Das soll's übrigens auch mit Chefinnen und Sekretären geben und auch in ganz gleichgeschlechtlichen Büros ...

Sadomasochismus für Politiker

Ohne Ihnen nahezutreten und egal, ob Sie nun große Politik machen oder nur im Vorstand eines Kleintierzüchtervereins sind (Psychotherapievereine lassen wir einmal beiseite, das ist sicher etwas ganz anderes ...): Wie gesund ist Ihr Verhältnis zur Macht? Leben Sie es aus, ihr Bedürfnis nach Einfluß? Gestehen Sie es sich zu, daß Sie schlicht und einfach wollen, daß die Dinge so laufen, wie Sie es wollen? Oder tun Sie nur Ihren »Dienst«? Will sagen: es geht Ihnen ja nicht um die Macht, sondern einzig um's Gemeinwohl und so?

Sadomasochismus für Journalisten, Filemmacher und Quotenmaximierer

Einträglicher Stoff. Empfehlenswert, wenn's in der Kasse klingeln soll und die Einschaltziffern es nötig haben. Am besten 9 1/2 Wochen lang und mit violettem Samt.

Sadomasochismus für Liebespaare

Jetzt hat's sogar schon Gerti Senger als »Sex–Spiel« entdeckt und vorgeführt (»Lust auf Liebe«, ORF 1, 6. 3. 1998). Und manche Theorien (siehe oben) bescheinigen Ihnen, daß Sadomasochismus ohnehin immer irgendwie dabei ist, ob Sie es nun wollen oder wissen oder nicht ...

Sadomasochismus für Sexbesessene

Unerquicklich, weil zu aufwendig (»Das Zeitraubende sind die Vorbereitungen, Claire.«) — Daher abzuraten.

Sadomasochismus für SadomasochistInnen

Genauer gesagt: Für solche, die Spaß an einvernehmlichen sadomasochistischen Spielen finden.
Einfach zum Nachdenken.
Natürlich ist es wichtig, zu seiner eigenen Sexualität zu stehen und sie zu verteidigen, hat man sie sich endlich einmal zugestanden. Natürlich ist Sadomasochismus, heterosexueller wie homosexueller, für die allermeisten »Normalmenschen« ein Tabu, wo's konkret wird, und daraus resultieren Einsamkeit, Ghetto und Subkultur. Natürlich muß man das Recht dazu verteidigen, daß Erwachsene miteinander tun dürfen, was sie wollen, wenn alle Beteiligten es wollen. Aber all das macht Beziehungsreflexion noch lange nicht überflüssig. Und so wenig Schuldgefühle weiterhelfen, so sicher ist, daß auch für Sie, die Sie sich in Dimension wagen, von denen andere nicht einmal eine Ahnung haben, es noch Dimensionen von Beziehung gibt, von denen Sie keine Ahnung haben. Dimension, die auch Ihren Spielraum erweitern können. Auch wenn es so schrecklich stinknormal ausschaut. Wie etwa Blümchensex.
Freiheit heißt nämlich nicht nur Freiheit für das Ritual, sondern auch Freiheit vom Ritual.
Und noch etwas: Angenommen, die Gesellschaft akzeptierte plötzlich Ihre Vorlieben — wie stünde es dann mit dem Selbstbewußtsein (wo Sie doch gerade wegen des Verpönten so etwas Besonderes sind, so ganz anders als die "Stinos")?

Sadomasochismus für Theaterbesucher

Und der Sadomasochismus bei Genet?
Das Ritual der Zofen ist wohl als der Versuch zu verstehen, ihre unüberwindlich erscheinende Abhängigkeit und ihre gesellschaftliche Außenseiterposition zu überwinden. Ihre Haßliebe zur Gnädigen Frau, eine Beziehung, die ebenso von lustvoller Bewunderung und Neid getragen ist wie von Angst und Schmerz, hält sie gefangen. Als Ausweg wählen sie neben Flucht– und Mordphantasien und –plänen das Rollenspiel, in dem die eine, und zwar bezeichnenderweise die jüngere, Claire, selbst in die Rolle der Gnädigen Frau schlüpft, die andere, Solange, den Part der beiden Dienstmädchen übernimmt (und dabei all das an Beleidigungen und Demütigungen aussprechen und –spielen kann, das ihnen sonst verboten bleibt).
Dieses Spiel hat einerseits eine anarchische Komponente, indem es die Rollen umkehrt: Die jüngere Schwester wird zur Herrin, die ältere wird die Untergebene. In der Totalidentifikation mit der gehaßten und geliebten Gnädigen Frau suchen die beiden den Ausweg, der ihnen jedoch nicht als Lebenden gelingt. Sadomasochismus wird hier zum verzweifelten Versuch, festschreibende und demütigende Beziehungskonstellationen zu überwinden. Der Versuch muß scheitern, weil mit der fehlenden Macht nicht spielerisch frei und kreativ umgegangen werden kann, sondern die sklavische Fixierung auf die Rolle — inklusive der Rollenumkehr — den Status quo nur zementiert, ja eskalieren läßt. Psychische und gesellschaftliche Motive dafür werden im Stück gleichermaßen sichtbar.
Neben dem anarchischen Aspekt aber steht andererseits der der strikten Ordnung: Die Beziehungskonstellation in diesem sadomasochistischen Ritual von Demütigung und Unterwerfung ist genau auf erwartbares Verhalten festgelegt. Vorspiel, Spiel und Ausgang sind exakt vereinbart. Die beiden finden dabei nicht zur ihrer eigenen Beziehungsgestaltung, sondern bleiben in der Imitation und Identifikation des erlebten und erfahrenen Herrschaftsverhältnisses stecken, die jede emanzipatorische Entwicklung ausschließen. Die Beziehung der beiden zueinander und zu ihrer Herrin — durchgehend von erotischen und sexuellen Motiven durchzogen, welche in den Dienst von unerfüllbarer Machtlust gestellt werden — läßt, obwohl Spiel, keinen Spielraum zu, keinen Freiraum. Und deshalb kann sie weder genügen noch konstruktive Alternativen entstehen lassen. So kommt es zur tödlichen Eskalation. Und dem mißlungenen Mordversuch an der Gnädigen Frau folgt die tödliche Imitation im Mord–Selbstmord–Ritual, von dem die endgültige Befreiung, die allgemeine Anerkennung und Bewunderung — man vergleiche Solanges Schlußmonolog — und die endgültige liebende Vereinigung erhofft werden.
Denn als Ausweg aus der destruktiv–sadomasochistischen Beziehungsfalle erscheint in der Tat einzig die Liebe. Den beiden allerdings, die auch außerhalb des eigentlichen Spiels, der »Zeremonie«, ständig um Überlegenheit in der Beziehung zueinander ringen und keine Gelegenheit zur wechselseitigen Demütigung auslassen, scheint sie nur im Tod möglich.

Liebe für Sadomasochisten

Das also ist des Pudels Kern. Es geht um Liebe.
Aber, das haben Sie sich ohnehin gleich gedacht.

Anmerkung

* erschienen in BRETTERHAUS PROGRAMMHEFT Nr. 23, S. 17–27
(c) 1998 by Peter F. Schmid/BRETTERHAUS

Literatur

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Calogeras, Roy C., Sadomasochistische Objektbeziehungen. Einige klinische Beobachtungen, in: Psychoanalyse (1994)
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Schmid, Peter F. / Wascher, Werner (Hg.), Towards Creativity. Ein personzentriertes Lese– und Bilderbuch, Linz (edition sandkorn) 1994
Schweinschwaller, Thomas / Rainer, Barbara, Theaterspielen zum Thema Gewalt, erscheint in: Interkulturelle Begegnungen, Bd. 2, 1998
Süddeutsche Zeitung, zit. n. Tagebuch eines Diebes, Vorsatz

Autor

Peter F. Schmid, Univ. Doz. HSProf. Mag. Dr., ist Pastoraltheologe, Pastoralpsychologe und Personzentrierter Psychotherapeut. Seit 1979 Leiter des Theaters "Bretterhaus".

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