Artikel Theologie  

Peter F. Schmid

Seelsorge im Dialog?
Praktisch–theologische Aspekte
zur Ausübung von Macht in Zeiten der Kirchenkrise*

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Anmerkungen | Endnotes
Literatur | References

Überblick

MACHT
Macht bedeutet die Fähigkeit zur Ermächtigung.
Machtrelativierung ist jüdische–christliche Tradition.
Machtpartizipation bedeutet wechselseitige "Sorge"–Pflicht.

SEELSORGE
"Sorge" bedeutet Betroffenheit und Engagement.
Seelsorge als Begegnung ist die wechselseitige Förderung beim Christsein.
Begegnung ist Verkündigung.

DIALOG
Dialog ist un–mittel–barer Austausch zwischen Personen.
Der Mensch ist in unaufhebbarer Differenz der Pluralität geschaffen.
Dialog ist fundamentale Verpflichtung zur Wahrheitssuche und "lebenskräftigste Verbindung mit Gott" (GS).

THESEN
Dialog als Grundprinzip von Theologie, Kirche und Seelsorge.
Machtausübung und Teilen von Macht als kommunikativer Vorgang.

"Der Dialog unter Christen ist eine gemeinsame Suche nach Wahrheit."
Bischof Weber, 3. 4. 19981

Dialog — Kommunikationsstil oder Inhalt?

Sehr geehrter Herr Dekan, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Vielleicht haben Sie die Fernsehsendung "Zur Sache" gesehen, in der ein theologischer Berater2 eines österreichischen Bischofs gemeint hat, Dialog in der Kirche sei "eine Frage der Methode, eine Frage des Stils, nicht des Inhalts".
Theologisch ist das aus christlicher Tradition ohne Schwierigkeiten als grober Unfug zu entlarven: Angefangen von einem trinitarischen, also dialogischen Gottesbild, einer Offenbarungstheologie, die Gottes Handeln heilsökonomisch zu begreifen sucht, und einem pneumatologischen Glaubensverständnis, über einen christologischen Ansatz, der Person und Lehre nicht trennt, sondern identifiziert, bis zur Communio–Ekklesiologie des II. Vatikanums: Dialog,3 also Gespräch, ist Inhalt unseres Glaubens, nicht bloß Methode, Form oder Stil.
Das eigentliche Problem einer solchen Aussage aber scheint mir — und zwar gerade in praktisch–theologischer Hinsicht —darin zu liegen, daß Inhalt und Methode einmal mehr in völlig unsachgemäßer und zweifellos tendenzieller Weise auseinanderdividiert werden: Unveränderlichen Inhalten wird die Art und Weise gegenüber gestellt, wie sie jemandem "beigebracht" werden — heute halt, als Zugeständnis an den Zeitgeist, "dialogisch", weil’s modern ist. Aber eigentlich und im Eigentlichen gibt es nichts zu verhandeln, nichts abzustimmen, auch nicht aufeinander abzustimmen.
Man muß freilich nicht in einem so radikalen Ruf stehen, wie der zitierte bischöfliche Berater. Auch von vielen der sogenannten Mitte angehörigen Amtsträgern wird man Ähnliches hören können: Dialog sei eine Frage des Umgangs miteinander, der Art und Weise, wie man sich auseinandersetzt. Aber der Inhalt, die Botschaft, das "Quis und Quid" der Verkündigung sei davon säuberlich zu trennen; will meinen: Das steht nicht in unserem Belieben und zu unserer Verfügung, das ist uns vorgegeben.
Was dabei übersehen wird, ist freilich, daß sich eine solche Position nur dann vertreten läßt, wenn man davon ausgeht, daß es jemanden gibt, der das Sagen hat und angeben kann, was genau der vorgegebene Inhalt von Botschaft und Verkündigung ist und wie er jeweils zu verstehen ist.

Macht

Ich habe mir für diese Vorlesung bewußt ein aktuelles kirchliches Thema gewählt, weil ich es für eine Verpflichtung der Theologie im allgemeinen, der Praktischen Theologie im besonderen halte, einen Beitrag zur Aufarbeitung der aktuellen, krisenhaften Situation der Kirche in Österreich zu leisten.
Die gegenwärtige Krise, auf die die Bischofe mit dem Unternehmen "Dialog für Österreich" reagiert haben, muß zweifelsohne auch, wenn nicht vor allem, als eine Krise der Macht und der Autorität betrachtet werden. Nichts zeigt das deutlicher als die Causa Groër, die zuallererst eine Krise aufgrund des Mißbrauchs von Macht und Autorität ist. (Daß gerade gestern der zweite sogenannte Herdenbrief der Plattform "Wir sind Kirche" — er liegt mir noch nicht vor — just zu diesem Thema veröffentlicht wurde, zeigt einmal mehr seine Aktualität.)4

Macht bedeutet die Fähigkeit zur Ermächtigung

Was heißt eigentlich "Macht"?5
"Macht" kommt, etymologisch betrachtet, nicht von "machen", wie es wohl nicht zufällig oft mißverstanden wird, sondern von "mögen". "Macht" bedeutet eine Möglichkeit, ein Vermögen, eine Potenz. (In anderen Sprachen, etwa im Lateinischen, im Englischen und in den romanischen Sprachen verhält es sich genauso.)
Umgangsprachlich sieht man jemanden als mächtig an, wenn er "groß und stark" ist. Intraindividuell bedeutet, "Macht über sich selbst haben" soviel wie "sich selbst unter Kontrolle haben"; man denke an das Gegenteil, nämlich "ohnmächtig zu sein". Zwischenmenschlich und politisch – ohne hier auf die vielfältigen soziologischen, sozialpsychologischen und politischen Definitionen näher einzugehen — bedeutet Macht die Fähigkeit, andere zu beeinflussen. Man kann sie definieren als die Fähigkeit von einzelnen, von Gruppen oder gesellschaftlichen Systemen, eigene Potentiale zu aktualisieren (das heißt, eigenes Vermögen, eigene Fähigkeiten zu verwirklichen) und damit auf sich selbst und/oder andere bewußt oder unbewußt in erwünschter Weise, auch gegen Widerstand, hinsichtlich Einstellungen und Handlungen Einfluß auszuüben, also eine erwünschte Veränderung zu bewirken.6
Landläufig assoziieren wir mit Macht oft etwas Negatives — wahrscheinlich aus der vielfältigen Erfahrung des Mißbrauchs von Macht. Ausgehend von der eben genannten Definition ist das aber eine gefährliche Verkürzung, weil es eine Leugnung von etwas Vorhandenem bedeutet. Denn Macht im beschriebenen Sinn hat jeder, ob er will oder ob er nicht will, ob er sie bewußt einsetzt oder nicht. Gefährlich ist die Verkürzung deshalb, weil die Verleugnung Auseinandersetzung und Kontrolle nahezu verunmöglicht, für den Betroffenen wie für die anderen. Identifiziert man sich einseitig nur mit der "Opfer–Seite" und bekommt die eigene Machtausübung nicht in den Blick, so führt dies zu einer Pseudo–Unschuld, zum Vorgaukeln einer Tugend der Machtlosigkeit, wie es Rollo May (1974) bezeichnete, in der man sich letztlich von der Verantwortung für alles, was rundherum vorgeht, freisprechen kann.
Wenn Machtausübung verstanden wird als der Gebrauch von Fähigkeiten, Realisierung und Aktualisierung von Potential, so kommt man je nach Menschenbild zu unterschiedlichen Konsequenzen für den Umgang mit der eigenen Potenz. In der christlichen Perspektive der Mit–Menschlichkeit kommt wohl nur jene Sicht in Frage, die Macht grundsätzlich im Dienst der Erweiterung von Handlungsspielräumen für sich und andere sieht, also im Dienst von Freiheit und Kreativität, Sicherheit und Frieden. Macht dient damit der Erweiterung von Möglichkeiten — der eigenen wie der anderer. Und damit sind wir beim Kern: Macht bedeutet die Fähigkeit zur Ermächtigung.7 Machtausübung bedeutet Ermöglichung, Förderung von Macht.
Das heißt: Macht soll mächtig machen, nicht Macht nehmen und damit mehr oder weniger ohnmächtig machen. Die Ausübung von Macht steht so im Dienst an der Macht anderer. Sie ist die Potenz, Potentiale zu fördern, Fähigkeiten zu wecken und auszubauen.
Das relativiert Macht auf der einen Seite ebenso, wie es sie auf der anderen bedeutsam und unabdingbar macht.
Ganz ähnlich ist übrigens auch die Bedeutung von Autorität: Es geht um "augere" im Sinne des "Mehrens" — "augere" bedeutet "wachsen machen, fördern, unterstützen, wohltun". Autorität hat, wer in einer Beziehung eine förderliche Person ist. Eine Person mit Autorität mehrt, fördert das Leben anderer.8 Sie realisiert neue Möglichkeiten innerhalb vorhandener Grenzen und schafft Spielräume jenseits dessen, was zuvor als Grenze galt (Bauer 1992, 280f).
Beide, Autorität wie Machtausübung, werden damit als Beziehungskategorie deutlich. Sie haben ihren Sinn nur im Beziehungsgefüge von Angerufen–, Angesprochensein und der Antwort darauf als einer Ver–antwort–ung.
Genauso wird es von "den Mächtigen" in der Kirche auch gesehen. Ein aktuelles Zitat dazu von Erzbischof Schönborn in Zusammenhang mit seiner Kreierung zum Kardinal: "Macht in der Kirche ist nicht anders als anderswo: Sie ist immer Verantwortung. Macht ist eine Ermöglichung, etwas zu tun, aber auch eine Verantwortung, es richtig zu tun."9
So verstandene Macht ist also schöpferische Macht, Kreativität. Der Mensch, der seine Abhängigkeit von anderen erlebt, erfährt sich als auf Ermächtigung Angewiesener, ja er erlebt die eigene Ohnmacht als Erfahrung der Macht Gottes (2 Kor 12, 9f)10: "Ich glaube an Gott, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erde." Diese Attributionen stehen nicht zufällig nebeneinander: Gottes Allmacht, Urbild jeder Macht, ermöglicht, ermächtigt, den Menschen zur Partizipation an seiner Allmacht. Gott hat sich sein Volk machtvoll erwählt.11
Ganz klassisch ist dies bei Thomas von Aquin formuliert: Gottes Allmacht ist schöpferische Macht, die das Geschöpf in seine ihm zukommende Macht und freie Verantwortung vor Gott und den Mitgeschöpfen stellt.12 Letztlich ist Gottes Macht die Allmacht der Liebe.13

Machtrelativierung ist jüdische–christliche Tradition

Die jüdisch–christliche Geschichte ist im Wesen eine Geschichte der Machtdistanzierung und Machtrelativierung. Wenn man diesen Satz heute laut ausspricht, so erntet man beim überwiegenden Teil der Menschen zweifellos Lachen und Spott, zumindest was den christlichen Teil davon betrifft. Doch so fing es in der Tat an: Jesus, "in endzeitlicher Macht ‚Sklavengestalt‘ annehmender Bevollmächtigter Gottes" sprach "kraft charismatischer ‚Vollmacht‘ (exousia [exousía]) [...] den ‚Ohnmächtigen‘ das Heil" zu, "indem er die in seinem Volk dominierenden Mächte kritisch beleuchtete", unter anderem die religiöse und weltliche Macht, so die Tora, die priesterliche Hierarchie, die Religion der römischen Weltmacht (Ebertz 1997b, 1168). Er zielt auf einen Abbau des Machtgefälles zugunsten einer Verschwisterung der Gläubigen bzw. der Menschen und auf Einheit von Macht und Liebe. Neutestamentlich generell, kreuzestheologisch im besonderen gilt: Christlicher Umgang mit Macht ist kritischer Umgang mit Macht und steht daher immer unter einem Vorbehalt. Macht ist keine Garantie für Wahrheit.
Trotz aller Pervertierung dieser Idee in der Kirchengeschichte blieb sie ein zentrales Motiv der innerkirchlichen Religionskritik. Machtkritik aber ist zugleich die Quelle von Widerstand. Daher ist auch der christlichen Sozialethik zufolge die Institutionalisierung von Machtkontrolle und die Machtpartizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen, natürlich auch in der Kirche, unabdingbar. Eine befreiende Theologie hat deshalb ihre Probleme mit der europäischen, Macht legitimierenden und begründenden Theologie dort, wo diese Macht–Theologie nicht auch Kritik von (Unrechts–) Macht fundiert.14

Machtpartizipation bedeutet wechselseitige "Sorge"–Pflicht

Das erwähnte Paradigma im Umgang mit Macht — Macht als Ermächtigung aus einem förderlichen Beziehungsverständnis heraus — liegt im übrigen auch dem Bild des Guten Hirten als eines Modells von Autoritätsbeziehung zugrunde: "Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt, und ich den Vater kenne" (Joh 10,14f). Der Gute Hirte, in enger Beziehung zu den Seinen, sorgt sich, und zwar um das Leben der ihm Anvertrauten.
Autorität bedeutet also Sorgepflicht um das Leben. Von diesem Bild des Pastors hat nicht nur die Seelsorge, sondern eine ganze theologische Disziplin ihren Namen bekommen.

Seelsorge

"Sorge" bedeutet Betroffenheit und Engagement

Und damit sind wir bei der Seel–Sorge. Seelsorge — ich habe das an anderer Stelle ausgeführt (Schmid 1989; 1997a; 1998a; 1998b; 1998c) — bedeutet wechselseitige Sorge von Christen um das Leben aus dem Glauben. Sorge ist hier sowohl im Sinne des Bekümmertseins wie im Sinne des Sich–Kümmerns, also als Unruhe und Betroffenheit wie als Engagement und Bemühen um Abhilfe in untrennbarer Einheit, zu verstehen.
Die Zeiten, in denen Seelsorge als Belehrung und Ermahnung verstanden wurde, sind zumindest theoretisch endgültig vorbei. Auch das Modell von Seelsorge als Beratung durch Experten ist fragwürdig geworden. Zu sehr ist uns deutlich, daß es keine Glaubensexperten und Lebensfachleute in dem Sinn geben kann, daß die einen wissen, wie man leben und glauben muß, und den anderen dazu Ratschläge geben können oder das Rezept dafür haben, wie man sie auf den richtigen Weg führen kann. Ein Theologe mag Fachmann in der Reflexion von Erfahrungen, Traditionen, Glaubenseinstellungen und –inhalten sein, ein Seelsorger von Amts wegen mag eine lange Berufserfahrung haben, keiner von ihnen jedoch kann Fachmann für Leben, Glauben oder Lieben sein. Was diese personalen Prozesse betrifft, sind wir alle in fundamentaler Weise gleich. Wir alle bedürfen der Förderung und Begleitung, wir alle bedürfen der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Mit einem Wort: Seelsorge als Begegnung ist die gegenseitige Förderung der Christinnen und Christen beim Christsein.

Seelsorge als Begegnung ist die wechselseitige Förderung beim Christsein

In der ältesten Schicht des Neuen Testaments spielt das "Einander" bzw. "Miteinander" (griech. "allhlon [allelon]") eine zentrale Rolle: "Vergebt einander, ermahnt einander, stärkt einander, nehmt einander an." (Z. B. Röm 15,7) Nach einem solchen Verständnis ist — die Aussagen des Zweiten Vatikanums von der Gemeinde als Subjekt der Seelsorge ernst genommen — Seelsorge die gegenseitige Unterstützung bei der Arbeit im Reich Gottes und die wechselseitige Herausforderung dazu. Alle Christinnen und Christen sind aufgerufen, Seelsorgerinnen und Seelsorger zu sein — füreinander und miteinander.15

Begegnung ist Verkündigung16

Seelsorge ist damit als »Begegnung« charakterisierbar, die von der prinzipiellen Gleichrangigkeit ausgeht. Canon 208 legt diese fundamentale Gleichheit im Kirchenrecht fest: "Unter allen Gläubigen besteht, und zwar aufgrund ihrer Wiedergeburt in Christus, eine wahre Gleichheit in ihrer Würde und Tätigkeit, kraft der alle, je nach ihrer eigenen Stellung und Aufgabe, am Aufbau des Leibes Christi mitwirken."
Der einzige Grund dafür, warum der Mensch dem Menschen kein Wolf sein soll, ist, daß wir alle Kinder des einen Vaters und daher alle vor ihm gleich sind. Deshalb ist Begegnung und ihre Transzendenzerfahrung auch ein Lernort für Gotteserfahrung.Begegnung ist wechselseitige Freiheitsermöglichung. Einem Menschen zu begegnen, bedeutet, zunächst und vor allem, ihm gegenwärtig zu sein, ihm in der Haltung von Wertschätzung und Wahrhaftigkeit Raum und Freiheit zu geben, sich aus eigenem zu entfalten, ganz der zu werden und zu sein, als der er angelegt ist und zu dem er berufen ist, was einerseits jeder Benützung zu einem Mittel oder einem Zweck und jeder Absicht, andererseits dem Handeln aus einer Rolle oder Funktion heraus entgegensteht. Begegnung als solidarisches Miteinandersein bedeutet somit immer Risiko und Wagnis, aber auch die Chance, selbst beschenkt zu werden und wachsend immer mehr sein eigenes Personsein zu entfalten.Damit wird auch deutlich, daß Begegnung kein Mittel zur Seelsorge ist, denn Begegnung entbehrt aller Mittel, sie ist un–mittel–bar. Es kommt nicht auf ausgefeilte Pastoraltechniken, auf rhetorische Fertigkeiten oder gar psychologische Tricks an, sondern auf die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Person. Und wieder gilt: Begegnung ist nicht der formale Aspekt, mit Hilfe dessen der inhaltliche transportiert wird, sozusagen: Begegnung als Mittel zur Verkündigung. Nein — gerade in der Begegnung geschieht Verkündigung.

Dialog

Dialog ist die Sprache der Begegnung. Wenn Seelsorge also im beschriebenen Sinne als ein fundamental wechselseitiges Geschehen zu verstehen ist, so muß man auch sagen: Seelsorge geschieht im Dialog, mehr noch: sie ist Dialog.
Denn Dialog ist, wie schon eingangs erwähnt, nicht einfach Mittel der Auseinandersetzung, nicht bloß Gegenstand der Kommunikationstheorie oder der Politikwissenschaften; er ist theologisches Grundprinzip und damit auch Grundprinzip der Pastoral.

Dialog ist un–mittel–barer Austausch zwischen Personen

Im Dialog — der Begriff ist untrennbar mit dem aus der Trinitätsreflexion stammenden Personbegriff verbunden — kommt der Andere als er selbst zu Wort, wie ich selbst und die Sache, um die es geht, zu Wort kommen (Casper 1995, 192). Die personalistische Philosophie, das sogenannte "Neue dialogische Denken", hat den Dialog ontologisch, anthropologisch, erkenntnistheoretisch, ethisch und pädgagogisch ins Zentrum gestellt. (Und gerade auch die Postmoderne und der Konstruktivismus kommen ohne ein dialogisches Konzept nicht aus.)
Das Wesen des Dialogs besteht darin, daß keiner den anderen als Mittel mißbrauchen darf, sondern der Mensch sich dem anderen un–mittel–bar um seiner selbst willen zuwendet (vgl. Hunold 1995, 194). Dialog ist bereits vorverbal gegeben, im Ernstnehmen der Grundbefindlichkeit des Sich–in–der–Verantwortung–Findens (Casper, a.a.O.). Dialog bedeutet offenen Diskurs und damit ein Verlassen der Welt des Habens und Herrschens. Er kennzeichnet die Weise des Austausches zwischen Personen, womit Martin Buber (1948) die Wechselseitigkeit der Teilnahme und Teilhabe am Sein des Anderen als Merkmal des Dialogs hervorstreicht. Dialog geschieht im un–mittel–baren Miteinandersein als interpersonale Mitteilung und ist Ausdruck der relationalen Dimension am Personsein.17
Emmanuel Lévinas sieht die Begründung einer dialogischen Ethik als erste Philosophie in der uralten Erfahrung der Begegnung mit einem anderen Menschen. Gesprochen wird demnach nicht, um Recht zu haben, zur Selbsterhaltung, Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung, sondern um des Anderen willen, als ein Antworten, aus der Ver–antwort–ung. Das Sprechen geschieht in der Bereitschaft der Zurücknahme und als Sprechen für den Anderen. Sprache wird zur Für–Sprache. Dialog wird damit zum "mouvement sans retour" in eine unbekannte Zukunft, zur Umkehr, die alle Brücken hinter sich abbricht. Denn die Welt ist nicht die Welt "des Menschen", sondern jene "der Menschen", weshalb für Lévinas eine radikale Umkehr von der Monologik zur Dialogik ethisch unabdingbar ist und die abendländische Philosophie sich den Vorwurf gefallen lassen muß, bislang Egologie gewesen zu sein. Mehr noch: Dem Dialog geht, Lévinas zufolge, die Diakonie voraus als eine letzte Verantwortlichkeit, die eine fundamentale Transzendenzangewiesenheit und –erfahrung des Menschen anzeigt. Hier wird ein asymmetrisches Verhältnis artikuliert, das weit über Buber hinausgeht und auch noch einmal die "Ich–Du–Philosophie" kritisch beleuchtet, indem das "Du–Ich", also die prinzipielle Vorrrangigkeit des Anderen betont wird. Noch eine wichtige Erkenntnis verdankt die personalistische Philosophie Lévinas: Es gibt nicht nur den Anderen, es gibt die Anderen. Die Chiffre dafür lautet: Es gibt den Dritten, in dessen Gegenwart und Horizont auch das Geschehen zwischen Zweien sich jeweils ereignet. So wird die Drei–Einigkeit letztlich zum Grundelement für Interpersonalität, Liebe wird in ihrem Wesen als Mit–Liebe, als condilectio (Richard v. St. Viktor)18 deutlich. (Z. B. Lévinas 1983; vgl. Schmid 1994a, 144–154)19

Der Mensch ist in unaufhebbarer Differenz der Pluralität geschaffen

Auch die theologische Begründung für die Unabdingbarkeit des Dialogs liegt darin, daß der Mensch nicht als ein Einziger, sondern in der "unaufhebbaren Differenz der Pluralität" (Casper 1995, 192) geschaffen ist, also insbesondere auch als Mann und Frau (Gen 1,27). Der christliche Glaube geht von einer fundamentalen Dialogverwiesenheit des Menschen aus. Somit muß auch von einer "unendlichen und absoluten Verpflichtung" zum Dialog und zur Begegnung gesprochen werden. Der Dialog kann nicht aus einer übergeordneten Einheit abgeleitet werden, sondern er ist als notwendig aus der ursprünglichen Pluralität zu begreifen. Es besteht daher die Verpflichtung, sich einer offenen Zukunft auszusetzen und sich zu riskieren (Casper, a.a.O.) und nicht schon immer zu wissen oder wissen zu wollen, was kommt und sein wird und zu sein hat.
Mit einem Wort: Wahrheitserkenntnis ist nur im Dialog möglich.

Dialog, die "lebenskräftigste Verbindung mit Gott", ist die fundamentale Verpflichtung zur Wahrheitssuche

Den Dialog mit Gott sieht das Konzil als "innigste und lebenskräftigste Verbindung mit Gott". Im Zusammenhang mit dem Atheismus heißt es in "Gaudium et Spes" (Nr. 19): "Ein besonderer Grund für die Würde des Menschen liegt in der Berufung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott. Zum Dialog mit Gott wird der Mensch schon von seinem Ursprung her eingeladen: er existiert nämlich nur, weil er, von Gott aus Liebe geschaffen, immer aus Liebe erhalten wird."20
So geht etwa auch das alte Konzept der Loci theologici des Melchior Cano (1563) davon aus, daß Wahrheitsfindung dialogisch geschieht (vgl. Schmid 1998c; 1998e). Der Dialog war das Hauptanliegen in "Ecclesiam suam", der ersten Enzyklika — wenn man so will, also der "Regierungserklärung" — Papst Pauls VI. (1964). In ihrer Tradition stehen die späteren Konzilserklärungen über die Religionsfreiheit, über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen und über die Kirche in der Welt von heute. Die Kirche eröffnete damit neu den Dialog mit Wissenschaft, Kunst und Politik. Das Bischofsdekret des II. Vatikanums spricht unter Berufung auf "Ecclesiam suam" vom "Heilsdialog", in dem die Kirche mit den Menschen ins Gespräch kommt (CD 13). Zum innerkirchlichen Dialog verpflichtet "Gaudium et spes": Parteien innerhalb der Kirche sei es nicht erlaubt, die Autorität der Kirche ausschließlich für die eigene Meinung in Anspruch zu nehmen, heißt es dort, sondern sie sollten "in einem aufrichtigen Dialog sich gegenseitig zur Klärung der Frage zu helfen suchen". (Nr. 43). Und die Instruktion der Glaubenskongregation "Libertatis conscientia" aus dem Jahr 1986 betont, der Christ solle den Weg des Dialogs und der Übereinstimmung der Parteien wählen.
In aller nur wünschenswerten Deutlichkeit — und damit kommen wir zurück zur aktuellen Kirchensituation — sagte der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl vor wenigen Tagen beim großen Dialog–Symposion im ORF–Zentrum, zu dem die Österreichische Bischofskonferenz gemeinsam mit der "Kontaktstelle für Weltreligionen" und den ORF–Religionsabteilungen eingeladen hatte: "Für die Kirche ist Dialog kein freigewähltes Mittel, sondern etwas, das ‚untrennbar zu ihrem Wesen gehört [... .] Die heutigen Spannungen innerhalb der katholischen Kirche gehen vor allem darauf zurück, daß die Kommunikation innerhalb der Kirche nur mangelhaft funktioniert.‘ Die Idee des Zweiten Vatikanischen Konzils von der Kirche als ‚Communio‘ (Gemeinschaft) sei nicht umgesetzt worden. Trotz Einsatz modernster Kommunikationsmittel fehle es etwa im Verhältnis zwischen Rom und den Ortskirchen weitgehend an ‚echtem Dialog‘. [...] Selbst bei den vor der Geschichte sicher einmaligen Papstreisen gebe es nie Gelegenheit zu einem freien Dialog des Papstes mit den Bischöfen oder anderen Verantwortlichen der Ortskirchen. Auch die vom Kirchenrecht vorgesehenen Ad–limina–Besuche ‚sehen kaum Zeit dafür vor‘. Andererseits werde der Dialog auch bei sich ergebenden Gelegenheiten nicht immer wahrgenommen‚ und zwar aus falsch verstandener Ehrfurcht vor dem Papst und der Kurie. Der in der Vorbereitung auf das Zweite Vatikanische Konzil und beim Konzil selbst so fruchtbar geübte Dialog zwischen Bischöfen und Theologen sei nun eher zu einer ‚Lehrbeaufsichtigung‘ auf der einen Seite und zum Teil ‚protesthafter Kritik‘ auf der anderen Seite erstarrt. In der innerkirchlichen Situation zwischen "zwei ,oft unversöhnlichen Lagern‘" gebe es "statt Dialog [...]‚ gegenseitige Verurteilungen, Ausgrenzungen, oft primitive Mißdeutungen und Verdächtigungen‘."21 Soweit Bischof Krätzl.22

Thesen

Zum Abschluß seien zusammenfassend und thesenartig einige Punkte hervorgehoben.

Dialog als Grundprinzip von Theologie, Kirche und Seelsorge

  1. Der Dialog gehört zum auf den dreieinigen Gott verweisenden Wesen der Kirche und ist das wesentliche Grundmuster kirchlicher Kommunikation nach innen wie nach außen. Er kann nicht bloße Methode sein, sondern er ist als die einzig angemessene Weise des Sich–Zueinander–Verhaltens und Miteinander–Kommunizierens Grundprinzip christlichen Selbstverständnisses. Was die Kirche mitzuteilen hat, ist nur im Sinne des Dialogs mitteilbar. Will man es pointiert ausdrücken, so kann man sagen: Die Kirche ist das Sakrament des Dialogs. (Und so betrachtet, gehört der Dialog zum Materialobjekt der Pastoraltheologie.)
  2. Seelsorge kann nur im Dialog und als Dialog geschehen. Als Betroffenheit und Engagement um das Leben aus dem Glauben und als wechselseitige Förderung beim Christsein ist sie von ihrer Natur her auf den Austausch von Wort (martyria), heiligen, heilswirksamen Zeichen (leiturgia) und von Liebe (diakonia) in Gemeinschaft (koinonia) angelegt.
    In der Praxis gilt die Verpflichtung auf den Dialog für den Bischof in seiner Diözese ebenso wie für den Jugendleiter in seinem Arbeitsbereich. Sie gilt aber auch umgekehrt für die Kommunikation mit den Amtsträgern von der Basis her (und erfordert beispielsweise Verständnis für die Angst vor Machtverlust).
  3. Der Dialog ist natürlich auch "zwingendes Grundmuster" jeglicher theologischer Kommunikation, insbesondere der "praktisch–theologischen Kommunikation" (Spendel 1995). (Der Dialog ist solcherart das Webmuster der Pastoraltheologie, also auch ihr Formalobjekt, im übrigen ganz im Sinne Karl Rahners.)
  4. Dialog — als Grundprinzip von Theologie, von Kirche und von Seelsorge — ist nicht ein einmaliger, abgeschlossener Vorgang, sondern unabdingbar eine permanente Aufgabe. Der "Dialog für Österreich" muß als neue Initialzündung gesehen werden, die einen dauerhaften dialogischen Prozeß einleitet. Dazu bedarf es der Ausbildung dialogischer Strukturen und (synodaler) Einrichtungen, nicht nur des individuellen und/oder einmalig–begrenzten Dialogvorgangs.
  5. All das bedingt ein grundlegendes Umdenken von einem ausschließlich oder vorwiegend einheitsorientierten zu einem dialektischen und pluralistischen Denken. Was sich theologisch in vielen Bereichen ereignet hat und abzeichnet, von der Trinitätstheologie bis zur Ekklesiologie beispielsweise, muß in den tausenden praktischen Lebensbereichen der Kirche realisiert werden, überall dort, wo Christen ihr Leben zu gestalten versuchen.
    Vielfalt ist gefragt, nicht Einfalt. Das ist vielleicht als die Herausforderung an Theologen, Amtsträger und Seelsorger beiderlei Geschlechts zu sehen. Dabei die Einheit zu wahren oder besser: neu zu finden, ist eine von vielen Aufgaben, die Macht erfordert.

Machtausübung und Teilen von Macht als kommunikativ–dialogischer Vorgang

  1. Machtausübung ist, wie erwähnt, jedoch ein kommunikativer, dialogischer Vorgang im Sinne von wechselseitiger Ermächtigung.
  2. Das gilt auf allen Ebenen: Im Dialog mit der Welt, im innerkirchlichen Dialog und, last but not least, — auch das muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden — ist ein neuer Umgang mit Macht conditio sine qua non im stockenden ökumenischen Prozeß. Die Macht der Kirche ist die Macht des Dialogs.
  3. Dieses Verständnis von Macht beruht auf einem auch pneumatologisch orientierten, nicht auf einem einseitig christozentristischen Menschen– und Gottesbild. Der Umgang mit Macht ist also ein Indikator für die jeweilige Theologie, auf der diese Praxis aufruht. Monokratische Machtausübung entlarvt neben menschlicher Unreife auch ein Theologiedefizit und letzlich ein vorchristliches Gottesbild.
  4. Die Gottesfrage als zentrales Thema rückt in den Zusammenhang der Sehnsucht nach authentischem Leben. Zum Lebensraum des Glaubens werden Gemeinden, die fähig sind, durch ihre Lebensvollzüge zu einem dialogischen Prozeß elementarer Christianisierung zu führen. "Von der Herrschaft Gottes her lassen sich Kriterien der Unterscheidung gewinnen." (Feifel 1996, 37)
  5. Man muß in der Kirche auf allen Ebenen lernen, zur Macht stehen, sie zu bejahen und ihre Ausübung sorgfältig zu reflektieren. Sie zu leugnen oder abzulehnen, verwirrt und schafft unklare Verhältnisse. Zur konstruktiven Ausübung von Macht muß ermuntert werden.
  6. Macht muß geteilt werden. Der vielzitierte partizipative Leitungsstil bleibt eine Worthülse, wenn er nicht aus einem partizipativen, dialogischen Grundverständnis erwächst. Nicht nur das Leiten muß partizipativ geschehen, sondern das gesamte Leben aus einem christlichen Verständnis heraus muß als dialogischer Erkenntnisprozeß in Theorie und Praxis begriffen werden. Dialog heißt Teilen von Macht.
  7. Bedingungen für einen solchen Umgang mit Macht und für gelingenden Dialog sind Authentizität, bedingungsfreie Wertschätzung und empathisches Verständnis. Ich habe zeigen können, daß diese in der Psychotherapie als essentiell herausgearbeiteten Grundhaltungen auch für den Dialog konstitutive Bedeutung haben (Schmid 1998d).
  8. Für ein plurales Verständnis des Zusammenlebens muß eine Konfliktkultur entwickelt werden. Ohne Konflikte geht es nicht. Sie vermeiden zu wollen, führt zu dialogverhindernden Strukturen und letztlich größeren, für das (Zusammen-)Leben bedrohlichen Konflikten.
  9. Für den Umgang mit Macht in der Kirche in Zeiten der Krise gilt: Ermächtigen ist das Gebot der Stunde, nicht ausgrenzen. Vom Dialog darf nicht nur niemand ausgeschlossen werden, der teilnehmen will, wenn er sich zur Kirche bekennt, sondern es ist eigentlich die Aufgabe der Verantwortlichen, insbesondere der Bischöfe, zur Teilnahme zu ermutigen und aufzufordern.
  10. Es müssen geduldig neue Modelle im Umgang mit Macht und Partizipation erprobt werden, was in einer Umbruchsphase für niemanden eine einfache Aufgabe darstellt. Ziel muß sein, jede einzelne, jeden einzelnen und jede einzelne Gruppierung ihren spezifischen Beitrag aus ihrem spezifischen Potential heraus finden und leisten zu lassen.
  11. Die Laien, die Frauen sind schlecht beraten, wenn sie überkommene Modelle im Umgang mit Macht kopieren und imitieren wollten. Die Vielfalt muß als Chance für ein anderes, nicht–hierarchisches Paradigma im Umgang mit Macht gesehen werden. Das neu reflektierte und entwickelte Selbstverständnis der Frauen beispielsweise kann wesentlich zu einem stärker beziehungsorientierten Umgang mit Macht beitragen.
  12. Vieles wäre hier über das Verständnis der Predigt (als ein Dialog, bei dem der Prediger gerade am Wort ist. Sie ist nicht ein Monolog, sondern sie lebt vom Gespräch. Man kennt sofort, ob ein Prediger mit den Leuten im Gespräch ist oder nicht)23 oder die Bedeutung der mühsamen, strukturell aber unbedingt notwendigen Gremien zu sagen.
  13. Das heißt letztlich auch, daß es eine theologische Arbeit ist, die vielfach noch aussteht, ein adäquates Verständnis von Demokratie in Kirche und Theologie zu entwickeln, nicht nur für Wahlvorgänge und Entscheidungen darüber, um welche Uhrzeit die Sonntagsmesse stattfindet, sondern auch für das Zusammenleben im Grundsätzlichen und für das Sich–Zusammenfinden in und Entscheiden von theologischen Fragen.
  14. Ein noch weitgehend ungehobenes Potential liegt in der Entdeckung der Bedeutung der Gruppe für Theologie und Seelsorge, über die ich andernorts ausführlich gehandelt habe. In ihr kann das Fördern und das Teilen von Macht, ein partizipativer Lebensstil zur Entwicklung von Solidarität wie Autonomie gelernt und praktiziert werden.
  15. Natürlich geht damit ein neues Verständnis von Amtsausübung einher: Ihre primäre Aufgabe besteht unter diesem Blickwinkel darin, machtvoll Charismen zu fördern und Strukturen zu ermöglichen, in denen die Potentiale der Vielen konstruktiv zum Ganzen beitragen können, in denen das eine Wort Gottes in vielen Worten und Handlungen verkündigt wird, in denen alle, geistgewirkt und dialogisch, ihr konkretes Zeugnis vom Wort Gottes geben können. Amtsträger, amtliche Seelsorger repräsentieren, vergegenwärtigen damit in offizieller, verdichteter, verbindlicher Weise, was die Kirche als ihre Aufgabe sieht — zu handeln, wie Jesus gehandelt hat: ein Meister, der seine Macht gezeigt hat als einer, der dient. (Joh 13)

"Stärke deine Brüder" (Lk 22,24–30)

Der Begriff "Dialog" findet sich nämlich sogar an einer Stelle, an der man ihn vielleicht am wenigsten vermuten würde, nämlich im Codex — und dort nicht gerade an einem nebensächlichen Ort: CIC Can.787 §1 über die Mission lautet: "Die Missionare haben durch das Zeugnis ihres Lebens und ihres Wortes mit den nicht an Christus Glaubenden einen ehrlichen Dialog [dialogum sincerum] zu führen ..." Dialog ist also, dem Kirchenrecht zufolge, als Zeugnis zu verstehen!
Was für die Kirche nach außen gilt — der ehrliche Dialog —, muß umso mehr nach innen gelten.
Dialog ist ein schöner Name für die Kirche in der Welt von heute. Sie kann sagen: Im Anfang war der Logos. Unsere Aufgabe ist der Dialogos.
Daß dieses Selbstverständnis an einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Macht geknüpft ist, wollte ich mit meinen Ausführungen darlegen.
Daß die Aufgabe der Praktischen Theologie, diese Umstellung zu begleiten und zu fördern, flankierende Maßnahmen für alle beteiligten Seiten zu erfinden und einzufordern, Kriterien zu entwickeln und zu überprüfen — daß diese Aufgabe keine einfache ist, braucht im obrigkeitsfixierten Österreich wohl nicht eigens erwähnt zu werden.
Nach dem Zeugnis des Lukasevangeliums hat Jesus dem Petrus gerade in einer Krise und im Kontext des Streits, wer wohl der größte sei (Lk 22,24–30), dieses Verständnis von Macht aufgegeben: "Stärke deine Brüder." (Lk 22,32). Daß er in diesem Sinne für ihn gebetet hat, begründet Jesus mit nicht mehr und nicht weniger als mit den Worten: "Damit dein Glaube nicht erlischt." (Ebd.)
Ich danke Ihnen.

Anmerkungen

* Überarbeitete Fassung einer Gastvorlesung an der Kath.–Theol. Fakultät der Karl–Franzens–Universität Graz am 31. 3. 1998. — Vgl. Diakonia 1 (2000).
(c) 1998 by Peter F. Schmid


1
Bischof Weber in der Pressekonferenz nach der Bischofskonferenz am 3. 4. 1998 (Orientierung, ORF2, 5. 4. 1998).
2 Reinhard Knittel; ORF 1 am 22. 2. 1998.
3 Die griechische Vorsilbe "
dia [diá]" bedeutet "auseinander; durch, hindurch, zwischen". "Dialog" mit der Bedeutung "Zwiegespräch, Wechselrede" kommt im 18. Jh. über das französische "dialogue" und das lateinische "dialogus" aus dem griechischen "dialogoV [dialogós]" mit der Bedeutung "Unterredung, Gespr\äch". Das zugrundeliegende Verb "dialegesqai [dialegésthai]" heißt "aussuchen; sich etwas im Nachdenken auseinanderlegen, überdenken, erwägen; sich unterreden; sprechen; beiwohnen" und ist mit "logoV [lógos]" verwandt. (Etymologieduden 107f, 402; Gemoll 201).
4 Den Kern bilden 20 Thesen, die davon ausgehen, daß sich die stets notwendigen christlichen Reformbewegungen an biblischen Modellen zu orientieren haben, die neben dem Meister-Jünger-Verhältnis eine geschwisterlich-synodale Struktur aufweisen (These 5). Ihr entsprächen moderne demokratische Organisationsformen (Thesen 7, 9). Die weiteren Thesen sprechen konkrete Punkte an, wie Schiedsgerichte für Streitfälle, Zulassung zur Eucharistie für wiederverheiratete Geschiedene, die Ablehnung von Geheimverfahren bei theologischen Streitigkeiten, ein Ende des ökumenischen Streits, die Erlaubnis der Laienpredigt in der Eucharistiefeier, die Betonung des allgemeinen Priestertums und sein Verhältnis zum besonderen Priestertum, diakonische Aufgaben und die politischen und kulturellen Aufgaben in der Welt (Thesen 12-20). — Auch hier werden allerdings "Begegnung und Dialog" als "bevorzugte Instrumente" (Hervorh. pfs) genannt für das vom Konzil gesuchte "lebendige Zeugnis des gläubigen Volkes" und "das Gespräch mit allen Menschen" sowie für den Aufbau einer geschwisterlichen Kirche unter dem Aspekt "Einheit in Vielfalt" (Thesen 8, 11)! (Plattform "Wir sind Kirche" 1998)
5 Cf. Schmid 1996.
6 Ebertz (1997a, 1167) beispielsweise bezeichnet Macht als Relationsgefüge, das Akteuren bzw. Systemen einen Dispositionsspielraum gibt, auf andere sowie auf Prozesse Einfluß zu gewinnen. — Belege zur Definition und Diskussion: Schmid 1996, 452-454.
7 Vgl. Macht als "Ermächtigung zum Leben".
8 Belege: Schmid 1996, 454.
9 "Orientierung" v. 22. 2. 1998.
10 Vgl. Bürkle 1997, 1167.
11 Vgl. dazu Lk 11,37-54; s. a. Josuttis 1994, 1.; Schiffers 1991.
12
S. th. I q.25 a. 1 u. 5; vgl. Schiffers 1991, 150.
13 Vgl. Propper 1993.
14 Vgl. Ebertz 1997b; Schiffers 1991, 151.
15 Aufgrund der zentralen Erfahrung der Gegenseitigkeit, die in der Begegnung geschieht, kann man hier von "Seelsorge als Begegnung" sprechen. Einer so verstandenen Seelsorge geht es darum, den "Gott der Menschen", dessen "Güte und Menschenfreundlichkeit" (Tit 3,4) uns erschienen ist, erfahrbar werden zu lassen. Dazu bedarf es menschlicher Güte und Freundlichkeit, der Begegnung. Charakteristisch für Begegnung ist das Vertrauen, das Reden mit jemandem. Seelsorge als Begegnung ist daher eine zuhörende, einfühlsame und annehmende Pastoral, die versucht, den Anruf Gottes in der jeweiligen Situation nicht nur von seiten des Seelsorgers, zu interpretieren, sondern gemeinsam mit den Betroffenen zu suchen und zu verstehen. (Vgl. Schmid 1989a; 1994b)
16 Vgl. Schmid 1994b.
17 S. ausführlich Schmid 1991; 1994a. — Vgl. a. Kruttschnitt 1995, 192.
18 Vgl. Schmid 1998a.
19 Dialog bedarf der "diachron geschehenden" (Rosenzweig 1984) Zeit, die mit ihm untrennbar zusammenhängt: Lévinas (1986) sagt, die Zeit geschehe als je neues "Der Eine-für-den-Anderen". In diesem Zusammenhang wird Menschsein von ihm sogar dadurch charakterisiert, daß es im"Geiselsein-für-den-Anderen" bestehe, weil zu Wahrheits- und Erkenntnisgewinn die gemeinsame Suche unabdingbar und der Mensch daher auf den anderen Menschen angewiesen sei.
20 "Viele von unseren Zeitgenossen erkennen jedoch diese innigste und lebenskräftigste Verbindung mit Gott überhaupt nicht oder verwerfen sie ausdrücklich." (Hervorh. pfs)
21 Kathpreß Nr. 66 v. 21. 3. 1998; Symposium "Dialog als Hoffnung der Zeit", Referat vom 20. 3. 1998.
22 Vgl. auch den Vortrag von Kardinal Franz König, der als Regeln für den Dialog im Sinne des Zweiten Vatikanums nennt:
- Es geht nicht um die Konfrontation von festgelegten Standpunkten, sondern um die Bereitschaft, die eigene Position zur Diskussion zu stellen, um "durch das Gespräch den anderen und sich selber besser kennenzulernen".
- Es handelt sich um gleichberechtigte Partner, was von allen Seiten Großmut, Bescheidenheit, Respekt verlangt.
- Er dient nie der bloßen Taktik, sondern ist ein Dienst an Kirche, Brüderlichkeit und Frieden.
- Er ist keine theoretische Debatte, sondern der Versuch, in aller Redlichkeit die Position des Partners zu verstehen.
- Er darf nie mißbraucht werden, wenn auch unbewußt und bewußt eigene Interessen im Spiel sind.
- Man muß sich an Spielregeln halten: In der Kirche sind dies gewisse Vorgaben durch Lehre und Verfassung.
23 Wilhelm Zauner 1998, pers. Mitteilung.

Literatur

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Autor

Peter F. Schmid, Univ. Doz. HSProf. Mag. Dr., ist Pastoraltheologe, Pastoralpsychologe und Personzentrierter Psychotherapeut, Lehrtätigkeit an den Universitäten Graz, Innsbruck und Wien und an der Hochschule St. Gabriel.


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